Der 9. November 1938 in Frankfurt am Main
von Salomon Korn
Vor zwei Jahren fanden allerorten Gedenkfeiern zur 60.
Wiederkehr des 8. Mai 1945 statt. Im nächsten Jahr wird des 70. Jahrestages
der "Reichskristallnacht" gedacht werden - Anlass für grundsätzliche
Überlegungen zum 9. November 1938. Daher möchte ich heute, ein
Jahr vor diesem Termin, die Gelegenheit nutzen, den Blick auf die regionale
Bedeutung dieses Ereignisses zu richten: auf das, was sich zu jener Zeit
in Frankfurt zugetragen hat. Bestärkt zu dieser Betrachtung werde
ich zudem durch einen sich in Vorbereitung befindlichen künstlerischen
Gestaltungswettbewerb zur Erlangung von Entwürfen für eine Gedenkstätte
auf dem früheren Gelände der Großmarkthalle und zukünftigen
Grundstück der Europäischen Zentralbank. Von dort wurden zwischen
1941 und 1945 in Zügen der Deutschen Reichsbahn über 10.600
Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.
Der besondere Blick auf Frankfurt bietet sich aus einem weiteren Grund
an. Seit über 800 Jahren leben urkundlich belegt Juden in dieser
Stadt - trotz dreier Vertreibungen, nach denen sie immer wieder zurückkehrten.
Mit Ausnahme vom einstmals zum Deutschen Reich gehörenden Prag war
Frankfurt die einzige deutsche Stadt, in der nahezu durchgehend - davon
400 Jahre im Ghetto - Juden vom Mittelalter bis zum nationalsozialistischen
Menschheitsverbrechen lebten. Hatte diese lange gemeinsame christlich-jüdische,
später deutsch-jüdische Geschichte Frankfurts nichtjüdische
Bürger dazu bewogen, ein Verhalten zu zeigen, das sich von dem in
anderen Städten zu beobachtenden Verhalten nichtjüdischer Deutscher
unterschied?
Das, was wir inzwischen über die Vorgänge der "Reichskristallnacht"
eher bruchstückhaft wissen, stammt zu einem beträchtlichen Teil
von jenen Frankfurter Juden, die im Rahmen des jährlich stattfindenden
Besuchsprogramms der Stadt Frankfurt für zwei Wochen in ihre frühere
Heimatstadt zurückkehren. Aus diesem Anlass wurden deren Erinnerungen
an den 9. und 10. November 1938 in Interviews festgehalten - Grund genug,
dieses vom früheren OB Walter Wallmann ins Leben gerufene Besuchsprogramm
auch in Zukunft fortzusetzen.
Mit dem Zitieren aus den Erinnerungen von Zeitzeugen folge ich jener Sichtweise,
die der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des Deutschen
Buchhandels, Saul Friedländer, gegenüber den Zeugnissen unmittelbar
am Geschehen Beteiligter einnimmt: "Wie ich in meiner Arbeit zu zeigen
suchte", so Friedländer, "sind solche Einblicke in die
Vergangenheit einzelner Menschen auch von allgemeiner Bedeutung für
die Darstellung von Geschichte." Diese individuellen Stimmen, so
Friedländer weiter, erschüttern uns "infolge der Arglosigkeit
der Opfer, die nichts von ihrem Schicksal ahnten, während viele rings
um sie das Ergebnis kannten und manchmal an seiner Herbeiführung
beteiligt waren."
Die Ereignisse der "Reichskristallnacht" in Frankfurt am Main
beginnen mit Brandschatzungen und Plünderungen von Synagogen, Geschäften
und Wohnungen jüdischer Frankfurter, setzen sich fort in der Deportation
jüdischer Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren in die Konzentrationslager
Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen und haben schließlich ein Nachspiel
in der Enteignung bzw. "Arisierung" des Eigentums der beiden
jüdischen Gemeinden Frankfurts und ihrer Mitglieder.
Über den Beginn der Ereignisse des 9. November 1938 berichtet die
1894 geborene Alice Oppenheimer in ihren schriftlich festgehaltenen Erinnerungen:
"Am Morgen des 10. November, es war ein Donnerstag, hörten wir
unaufhörlich die Feuerwehr vorbeifahren, von fünf Uhr früh
an. Wir wohnten in Frankfurt a. M. in der Friedberger Anlage 22. Die Synagoge
der Israelitischen Religionsgesellschaft war nicht weit entfernt. Es fiel
uns auf, wie langsam die Feuerwehrautos fuhren, während sie doch
normalerweise vorbeirasten. Wir hatten den Eindruck, dass die Wagen nur
einfach hin und her fuhren.
Mein Mann, ein Frühaufsteher, der jeden Morgen zum Frühgottesdienst
ging, weckte unsere beiden Söhne, zehn und dreizehneinhalb Jahre
alt, damit sie ihn begleiteten. Die beiden Töchter und ich drängten
meinen Mann, wegen des Tumultes, den man auf der Straße hören
konnte, zu Hause zu bleiben - doch wir konnten ihn nicht davon abbringen,
zur Synagoge zu gehen. Er und die beiden Jungen eilten davon, wir blieben
zurück, ängstlich und besorgt. Ein paar Minuten später
kamen sie zurück, und mein Mann rief verzweifelt. "Alice, die
Synagoge brennt, Alice, unsere Synagoge brennt!" Mehr konnte er in
diesem Augenblick nicht herausbringen. (
) Mein Mann, wir alle, alle
deutschen Juden hatten keine Vorstellung, was in deutschen Städten
seit fünf Uhr morgens vor sich ging, welche Tragödie uns bevorstand.
(
)
Wir armen Juden, wir wußten nichts, einfach gar nichts. Die Blitzbefehle
Hitlers und seiner Lakaien stellten uns Juden wieder und wieder vor ein
"Fait accompli". Keiner hatte eine Vorstellung davon, daß
alle Synagogen in ganz Deutschland seit dem frühen Morgen brannten,
daß die Nazis sie angesteckt hatten und das Feuer brennen ließen.
Die Feuerwehrleute sollten nur aufpassen, daß die angrenzenden Häuser
nicht auch Feuer fingen. Der Brand in der Synagoge aber durfte nicht verlöschen,
ehe noch irgendetwas übrig war.
Die Synagogenbrände ereigneten sich alle am selben Tag, zur selben
Stunde, in ganz Deutschland - eine Tatsache, die allen Mitgliedern der
NSDAP bekannt war, nur die deutschen Juden standen dem völlig ahnungslos
gegenüber. Jeder Jude wußte, daß "seine" Synagoge
brannte, aber was anderswo in Hamburg, Berlin, Frankfurt geschah - davon
wußten sie nichts. (
) Die Zustände in der Stadt waren
unbeschreiblich. Nichts als Klirren, Schlagen, Rufen, Schreien. Wilde,
zügellose Haufen füllten die Straßen. Noch heute schaudert
mich, wenn ich an den aufgewiegelten Pöbel denke. (
)
Es mag drei oder vier Uhr nachmittags gewesen sein - die genaue Zeit habe
ich vergessen -, als wir eine Menschenmenge mit Holzstöcken, Steinen
und Äxten kommen sahen. Im Geiste sehe ich immer noch lebhaft das
Bild von Käthe Kollwitz "Die aufrührerischen Bauern"
vor mir - genauso sah dieser Haufen aus. Wir wohnten in einer breiten
Villenstraße. Man konnte die rasenden Leute von fern sehen, wie
sie wie Betrunkene durch die Anlagen kamen, denn die Bäume waren
kahl und ermöglichten einen guten Blick. Wir standen am Fenster hinter
der Gardine und sahen den gewalttätigen Haufen näher und näher
kommen. Man konnte ihre Rufe, ihre ständigen Schreie hören:
"Nieder mit den Juden!", gefolgt von scheußlichem Gelächter.
Sie kamen quer durch den Park auf unser schönes Haus zu, aber plötzlich
schwenkten sie in eine Seitenstraße ein. Kein einziger Stein wurde
gegen unser Haus geworfen, keine einzige Fensterscheibe zerbrach. Es blieb
völlig unversehrt, wie durch ein Wunder. Aber hinter unserem Haus,
in den umliegenden jüdischen Wohnungen, raubten, plünderten,
zerstörten sie. Die Synagoge am Hermesweg, in der es bereits gebrannt
hatte, wurde noch einmal geschändet. Dann wandte der Haufen sich
in die Fichtestraße. Der Lärm sagte uns genau, wo die wilde
Horde war. "Oh Gott", rief ich, "das ist genau da, wo Rabbi
Horowitz mit seinen vielen Kindern wohnt. Was wird passieren?" Man
konnte hören, wie Glas zersprang und mit Äxten auf Holz eingeschlagen
wurde. Plötzlich wurde es still, und die Leute wandten sich einem
anderen Viertel zu.
Als es dämmerte, ging ich hin - das Haus des Rabbis war nur fünf
Minuten von uns entfernt. Entsetzen überwältigte mich. Die Mauern
des Hauses waren unversehrt, aber kein Fensterrahmen war in den Angeln
geblieben. Der Boden war mit Glasscherben übersät. Die Türen
waren ausgehängt, zertrümmert, und die Tische in Stücke
geschlagen. Eine wertvolle Sammlung geistlicher Bücher war Stück
für Stück entzweigerissen. Die Blätter lagen zerfetzt im
Vorgarten und wurden vom Wind umhergeweht. In einem der Zimmer sah ich
die Frau des Rabbis mit einem Säugling auf dem Schoß; die anderen
Kinder standen weinend um sie herum. Der Rabbi selbst war nicht da - die
verstörte Frau verriet nichts über seinen Aufenthaltsort. Er
mußte sich versteckt halten, aber sie enthüllte das Geheimnis
nicht. Alle Nahrungsmittel, sogar das bißchen Milch, das sie hatten,
waren ausgeschüttet oder weggeworfen worden."
So weit Auszüge aus den Aufzeichnungen von Alice Oppenheimer. Elisabeth
Bamberger, geboren 1889, erinnert sich:
"Am Morgen dieses 10. November 1938, einem der schwärzesten
Tage in der an Tragödien reichen Geschichte der Juden, ging ich morgens
auf die Mansarde, um in den dort befindlichen Koffern und Kisten zu kramen.
Da stürzte Frau H. herein: "Frau Bamberger, gehen Sie heute
nicht in die Stadt, die Synagogen brennen und man demoliert die jüdischen
Geschäfte! (
) Die SA tritt mit den Kanonenstiefeln die Schaufenster
ein, die Straßen liegen voll mit allen möglichen Waren."
Man warf nicht nur Kleider, Wäsche, Schuhe und dergleichen hinaus,
sondern Schreibmaschinen, Radios, sogar Klaviere flogen auf die Straße.
Die Berichte überstürzten sich. Die Synagogen brannten lichterloh,
und das Schlimmste war, daß alle jüdischen Männer, deren
man habhaft werden konnte, in ihren Wohnungen, Geschäften oder auf
der Straße verhaftet wurden. Man brachte sie in die Festhalle (
)"
Ephraim Franz Wagner, geboren 1919, zählt zu jenen Männern,
die gewaltsam in die Festhalle verschleppt wurden. Er und ein weiterer,
namentlich unbekannt gebliebener Augenzeuge berichten:
"Um die Mittagszeit herum klingelte es an unserer Haustür; zwei
uniformierte Polizisten erklärten uns, sie kämen, mich und meinen
Vater abzuholen. Wir hatten keine Ahnung, was der Grund dieser Verhaftung
sein könnte. Man brachte uns in das Gemeindehaus der Synagoge in
der Unterlindau, wo schon viele jüdische Männer aller Altersklassen
mit verängstigten Gesichtern herumstanden. (
) Nach einiger
Zeit fuhren Lastwagen vor, auf die wir aufgeladen wurden, und man brachte
uns in die große Festhalle, wo wir von der SS und der Gestapo übernommen
wurden. (
) Viele Hunderte von jüdischen Männern befanden
sich am 11. November in der Festhalle in Frankfurt. Blaue und Grüne
Polizei hatte sie, gleich wilden Tieren, in den Häusern und Straßen
aufgespürt, in den Hotels und an den Bahnhöfen verhaftet und
sie aus Bahnzügen und Trambahnen herausgeholt.
In kleinen Trupps waren sie von benachbarten Städten und Dörfern
eingeliefert worden. Zur selben Zeit, wenn sie sich sonst zum Empfang
des Sabbat in die Synagogen begaben, standen sie in langen Reihen in der
Halle, mußten ihre Personalien angeben und ihre Taschen ausleeren.
(
) Die SS-Leute kamen auf die Idee, die wartenden Juden durch Turnübungen
ein wenig zu beschäftigen. Alle, bis hinauf zu den Sechzigjährigen
- die Älteren wurden später entlassen - mußten Kniebeugen,
Arm- und Beinbewegungen machen oder die Halle im Laufschritt durchqueren.
(
) Etwa um 9 Uhr wurden die für das KZ bestimmten Häftlinge
in großen Autobussen zum Südbahnhof gebracht. Zivilpersonen,
die ihre Ankunft erwartet hatten, überschütteten sie mit einer
Flut der übelsten Beschimpfungen. Die dort aufgestellte Grüne
Polizei machte sich das Vergnügen, den Gefangenen beim Aussteigen
ein Bein zu stellen oder mit einem starken Faustschlag nachzuhelfen, wenn
ihnen die Leerung des Fahrzeugs zu langsam vorzugehen schien.
Auf dem Gleise wartete schon ein unübersehbar langer Personenzug.
Gegen 11 Uhr war er vollkommen gefüllt. (
) Dann rollte der
Zug durch die Nacht. Keiner von den Juden wußte wohin. (
)
Morgens gegen 6 Uhr rollte der Zug in eine große Station. Es war
Weimar. (
) Die Türen wurden aufgerissen. Von der Plattform
kam ein scharfer Befehl: "Raus, Ihr Schweinehunde!" Dort standen
SS-Leute, Säbel, Stecken und Gewehrkolben zum Schlage erhoben. Wie
irrsinnig sprangen die Häftlinge die breite Steintreppe hinunter,
die zu einer Unterführung führte. Viele von ihnen stürzten.
Die Nachdrängenden traten auf ihre Hände, Füße und
Rücken. Jeder versuchte den herabsausenden Schlägen zu entrinnen.
(
) Die Schläge fielen in schneller Folge auf ihre bloßen
Köpfe und auf ihre Rücken und trafen auch das Gesicht. Die Nazis
schlugen mit Gewehrkolben, Säbelscheiden, Peitschen und schweren
Stöcken. Herzzerreißende Schreie durchschnitten die Luft. Schreie,
wie Tiere sie ausstoßen in ihrer Todesangst. Schreie, die dem Hörer
den Atem wegnehmen. Schreie, denen man eher entlaufen möchte als
dem Sterben. Wie lange die Marter dauerte? Niemand von den Opfern wußte
es. Das Hirn versagte seinen Dienst. (
)
Unterdessen war der Morgen angebrochen. Im Dämmerlicht des unsäglich
traurigen Novembermorgens mußten die Gefangenen mit Planen überdeckte
Lastkraftwagen besteigen, die sie vor die Tore des Konzentrationslagers
Buchenwald brachten. (
) Dort wurden wir an der Rampe vom Lagerpersonal
in Empfang genommen. (
) Wie Vieh wurden wir im Laufschritt in Richtung
Eingangstor des Lagers getrieben. (
) Auf dem riesigen Vorhof hatten
wir uns in Reihen zum Apell aufzustellen. Nach stundenlangem zermürbendem
Stehen mußten wir abzählen und wurden dann in die schon vorbereiteten
und planmäßig aufgebauten fünf Barackenblöcke gejagt.
(
) Aus allen
Ecken hörte man Jammern und Klagen. Vielen schmerzten die Wunden,
die man ihnen zugefügt hatte; nicht wenige litten unter totalem Nervenzusammenbruch.
(
)
Die Greueltaten dieser Zeit sind zur Genüge beschrieben worden. Ich
mußte mit ansehen, wie einige der Häftlinge willkürlich
von der Lagermannschaft herausgezerrt wurden, um sie zu ihrem Ergötzen
von Hunden zerfleischen zu lassen; ich sah, wie schwächere, ältere
Menschen auf der großen, im Freien angebrachten offenen Latrine
plötzlich das Gleichgewicht verloren und in die Latrine hineinfielen
und dort elendiglich ums Leben kamen. Man ließ uns antreten und
zwang uns beim Erhängen von politischen Häftlingen zuzusehen.
Als ich ein paar Tage im Lazarett zubrachte, mußte ich zuschauen,
wie Menschen, die die Belastung nicht ertragen konnten und tobsüchtig
wurden, in nasse Decken eingeschnürt wurden und am nächsten
Tag tot waren. Ich hatte bei solchen Erlebnissen nur einen Gedanken: wie
kann ich mir das Leben nehmen, um dieser Hölle zu entrinnen."
Ephraim Franz Wagner ist dieser Hölle Mitte Dezember 1938 entkommen.
Ihm wurde der Kopf kahl geschoren und er musste, wie alle in KZ verschleppten
deutschen Juden, vor seiner Entlassung eidesstattlich erklären, er
sei gut behandelt worden. Falls er bis Ende Februar 1939 Deutschland nicht
verlassen habe, so wurde ihm unzweideutig erklärt, käme er erneut
ins KZ. Am 28. Februar 1939 nahm er Abschied von seinen Eltern und kam
am 6. März in Haifa an. Wie über 10.000 jüdischen Frankfurtern
gelang es auch seinen Eltern nicht, dem Schicksal der in Deutschland verbliebenen
Juden zu entrinnen.
In Frankfurt am Main wurden während des 9. und 10. November 1938
alle vier "großen" Synagogen angezündet und - mit
Ausnahme der Westendsynagoge - anschließend abgerissen. Von den
etwa vierzig Betstuben fielen mehr als die Hälfte der organisierten
Zerstörung zum Opfer; ein Teil entging ihr nur durch Zufall, versteckte
Lage oder weil Brandstiftung die unmittelbar angrenzenden Wohnhäuser
gefährdet hätte. Die Polizei schritt nicht ein, "verdächtigte"
nachträglich die Frankfurter Juden der Brandstiftung und erließ
eine dementsprechende Strafanzeige. Die sogenannten Judenverträge
vom 3. April 1939 kamen einer in ihren wirtschaftlichen Folgen für
die Jüdische Gemeinde bis heute spürbaren Zwangsenteignung gleich.
Darin übereigneten die Israelitische Gemeinde und die Israelitische
Religionsgesellschaft in zwangslegalisierter Form ihren gesamten bebauten
und unbebauten Grundbesitz, nahezu 100.000 qm innerstädtische Grundstücke
in bester Lage, für einen geringen Betrag an die Stadt Frankfurt
am Main.
Nach heutigem Forschungsstand kann festgehalten werden: Auslösung,
Ausbreitung und Verschärfung der "Reichskristallnacht"
auf dem Gebiet des früheren Deutschen Reiches waren nicht vorrangig
antisemitische Motive, sondern aus der Herrschaftsstruktur des NS-Regimes
resultierende Entscheidungsprozesse. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung
stand dem gleichgültig, zum Teil auch ablehnend gegenüber. Die
zuschauende Bevölkerung blieb auf Distanz zum Pogrom. Allerdings
wurde der Pogrom keineswegs nur von wenigen eingeschworenen "Nazis"
durchgeführt. Vielmehr bestand eine stattliche Anzahl aus seit 1933
den NS-Organisationen beigetretenen dreißig- bis fünfzigjährigen
Mitläufern aller Gesellschaftsschichten - nicht irgendwelche Außenseiter
der Gesellschaft, sondern ganz "normale" deutsche Bürger.
Es gab Ausnahmen: In Großstädten, vor allem in Berlin, gewährten
zahlreiche deutsche Nachbarn und Bekannte den aus ihren Wohnungen geflohenen
Juden tagelang Unterschlupf, sobald die Verhaftungsaktionen begannen -
doch die Zahl solcher Helfer blieb verschwindend gering.
Für Frankfurt kann zunächst festgestellt werden: Nach Kriegsende
hat es niemals systematische Ermittlungen gegen die für die Judenverfolgung
verantwortlichen Bediensteten des "Judenreferats" der Frankfurter
Gestapo gegeben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass für
die Frankfurter Justiz nach der Verurteilung zweier Hauptverantwortlicher
des "Judenreferats" die strafrechtliche Ahndung der Gestapoverbrechen
an Juden "abgehakt" war. Gegen mehrere Hauptverantwortliche,
die damals untergetaucht waren, wurde nicht oder nicht intensiv genug
gefahndet.
Verglichen etwa mit Berlin, haben in Frankfurt - nach heutigem Kenntnisstand
- nur wenige Hilfs- und Rettungsversuche stattgefunden. In ihrer 2006
erschienenen Untersuchung "Spuren der Menschlichkeit - Hilfe für
jüdische Frankfurter im Dritten Reich" versucht Renate Kingma
dies mit der Vermutung zu erklären, jüdische Bürger seien
lange arglos gewesen, weil sie sich als Deutsche fühlten, nichtjüdische
Bürger hätten viel zu lange "weggeschaut" und die
Deportationstransporte hätten zu plötzlich begonnen und zu rasch
hintereinander stattgefunden, als dass Helfer und Opfer sich mit der Situation
hätten vertraut machen können - was zumindest fraglich bleibt.
Denn die Deportationen begannen im Oktober 1941 und zogen sich in der
ersten Phase immerhin bis September 1942 ein Jahr hin. Ihnen folgten dann
Deportationszüge zwischen März 1943 und März 1945, wenngleich
mit nur noch wenigen Frankfurter Juden.
Verglichen mit anderen Städten, wies das Novemberpogrom in Frankfurt
"eine besonders radikale und brutale Färbung" auf (Wolfgang
Wippermann), vermutlich weil sowohl Opfer als auch Täter des die
"Reichskristallnacht" auslösenden Attentats, Ernst vom
Rat und Herschel Grünspan, aus Frankfurt stammten.
Von den mehr als 10.600 aus und über Frankfurt am Main deportierten
Bürgern jüdischen Glaubens erlebten weniger als 600 Menschen
die Befreiung, über 10.000 waren ermordet worden, etwa 700 Frankfurter
Juden begingen in den Jahren nach der "Reichskristallnacht"
Selbstmord.
Die Tatsache, dass der Großteil der Frankfurter jener Zeit dem öffentlichen
Plündern und Brandschatzen in ihrer Stadt gleichgültig oder
ablehnend-schweigend gegenüber stand, die wenigsten Täter nach
dem Krieg bestraft wurden und deren vor aller Augen stattgefundenen Verbrechen
weitgehend ungesühnt blieb, wirft Fragen nach den daraus zu ziehenden
Lehren auf.
Antworten darauf sind viele gegeben und oft wiederholt worden. Alle münden
sie in der Aufforderung: "Wehret den Anfängen". Dazu ist
es, vor allem und gerade für Bürger einer im großen und
ganzen gefestigten Demokratie, wie sie die Bundesrepublik Deutschland
heute darstellt, wichtig, aus der eigenen Geschichte nachwirkende Kristallisationskerne
völkischen Denkens, des Rassismus und Antisemitismus rechtzeitig
zu erkennen. Im Falle des Nationalsozialismus ist es, ähnlich wie
bei allen radikalen Ideologien, die Binnenstruktur eines gegen rationale
Argumente abgeschotteten Denkens, das aus Gründen des Machterhalts
und der damit notwendigerweise gekoppelten Feindbilder vorrangig ein Ziel
hatte und immer noch hat: vor allem Juden als vermeintliche Wurzel allen
Übels zu demütigen, zu vertreiben, zu vernichten.
Ein Vergleich mit unserer Gegenwart müsste uns aufrütteln, ja,
aufschrecken, denn Ausläufer und Abkömmlinge solch hermetisch
in sich geschlossener Denksysteme sind nach wie vor wirksam: sowohl im
Gedankengut der rechtsradikal-nationalistischen Szene Deutschlands als
auch in der aktuellen islamistischen, antisemitischen und antizionistischen
Propaganda.
Wir sollten endlich zur Kenntnis nehmen: im Gedankengut deutscher Neonazis
und ihrer Sympathisanten, in der christlich-nationalistischen Weltanschauung,
wie sie in manchen osteuropäischen Ländern zu beobachten ist,
sowie in der islamistischen Ideologie unserer Tage sind Strukturen wiederzuerkennen,
die uns aus dem Nationalsozialismus und seiner mörderischen Politik
vertraut sein müssten. Die daraus zu ziehenden Konsequenzen dürfen
nicht durch einen falsch verstandenen Kulturrelativismus gleich welcher
Art unterhöhlt werden.
Angesichts jener zwölf dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte
und seiner ideologischen Abkömmlinge ist immer wieder zu fragen,
ob Deutschland und Europa nicht aus wirtschaftlichen Interessen und falsch
verstandener diplomatischer Rücksichtnahmen eine Tatsache überhaupt
zur Kenntnis nehmen wollen: es genügt nicht nur, Gemeinsamkeiten
zwischen Nationalsozialismus, christlich-nationalistischer Ideologie osteuropäischer
Prägung und Islamismus zu erkennen - für daraus zu ziehende
Konsequenzen bleibt im Interesse des uneingeschränkten Fortbestandes
unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung nicht ewig Zeit.
Die Kräfte, die zum Hass drängen, sind ihrer niederen Natur
gemäß stets vehementer und aggressiver als die versöhnlichen.
Ihnen gegenüber gilt es unversöhnlich zu bleiben.
Ansprache zur 69. Wiederkehr des 9. November 1938 gehalten
am 8. November 2007 in der Frankfurter Westendsynagoge. Quelle: honestly-concerned.org
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