Zeuge des Holocaust
Saul Friedländer über Kurt Gerstein
von Marlies Flesch-Thebesius

Saul Friedländer, Professor für Geschichte in Tel Aviv und in Los Angeles, der im vergangenen Herbst mit dem Friedenpreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde, hat ein Buch über einen der rätselhaftesten und widersprüchlichsten Männer im Dritten Reichs geschrieben, über Kurt Gerstein. Das Buch erschien 1967 in französischer Sprache und wurde jetzt in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Friedländer beschreibt das Leben von Gerstein an Hand vieler, zum Teil unveröffentlichter Dokumente und Briefe. Große Sorgfalt verwendet er auf die Darstellung des zeitgeschichtlichen Umfelds.

Kurt Gerstein, geboren 1905, wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Der Vater war Landgerichtsdirektor. Wie ein großer Teil des deutschen Bürgertums litten die Gersteins unter dem verlorenen Weltkrieg, standen dem Weimarer Staat kritisch gegenüber und erwarteten desto mehr von Adolf Hitler und seiner Bewegung. Der junge Kurt Gerstein teilte diese Einstellung seiner Familie und wurde im Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Seit früher Jugend an war er gläubiger Christ, dies jedoch im Gegensatz zu den übrigen Familienmitgliedern. Er war Mitglied in der Deutschen Christlichen Studentenbewegungen und beim CVJM, mit besonderem Engagement aber beim Bund Deutscher Bibelkreise (BK).

Trotz seines frühzeitigen Eintritts in die Partei war sein Verhältnis zu dieser offenbar von Anfang an nicht ohne Schatten. Das zeigt bereits eine Äußerung, mit der er 1932 Hitlers brutale Reaktion auf die Morde von Potempa kommentierte. Fünf SA-Leute hatten einen Arbeiter im schlesischen Potempa ermordet und waren deshalb von einem Sondergericht zum Tode verurteilt worden. Hitler beschimpfte deswegen die deutsch Regierung und schickte den Mördern eine Solidaritätstelegramm, das mit dem Satz endete: "Der Kampf gegen die Regierung, in der dies möglich war, ist unsere Pflicht." Schon damals überlegte Kurt Gerstein, was zu tun sei, wenn eine von Hitler geführte Regierung an die Macht käme, und meinte, man könne in solchem Fall nicht anders helfen als von innen her; man müsse also aus der Mitte der Partei Widerstand leisten.

War etwa die Vorstellung, die Partei von ihrer Mitte aus zu bekämpfen, der geheime Grund, in die NSDAP einzutreten? Die Frage wird umso dringlicher, weil er im Oktober 1933 auch noch in die SA eintrat. Damals verstärkten die Nazis den Druck gegenüber der evangelischen Kirche. Das trieb Gerstein dazu, Widerstand zu leisten. Er versandte Hunderte von Briefen und Broschüren mit Texten über die Bekennende Kirche, organisierte einen lautstarken Protest anlässlich der Uraufführung eines antichristlichen Schauspiels in der Stadt Hagen und erzählte Witze, die Hitler und seine Leute lächerlich machten.

Das konnte nicht lange gut gehen. Im September 1936 wurde er zum ersten Mal verhaftet, im Juli 1938 zum zweiten Mal, diesmal mit Unterbringung im Konzentrationslager Welzheim. Er wurde aus der NSDAP ausgestoßen und verlor damit auch seine Staatsstellung als Bergassessor, die er gerade erst nach einem glänzend bestandenen Examen angetreten hatte. Sein Vater und seine Brüder suchten den Parteiausschluss rückgängig zu machen, und auch Sohn Kurt folgte dem Druck seiner Familie indem er sich um seine Rehabilitierung bemühte. Am Ende gab es einen gewissen Erfolg. Das Oberste Parteigericht verwandelte Gersteins "Ausschluss" in eine "Entlassung".

Nun versuchte er einen beruflichen Neuanfang und begann ein Studium der Medizin am Deutschen Institut für Ärztliche Mission in Tübingen. Am 31. August 1937 heiratete er Elfriede Bensch, eine Pfarrerstochter, die treu zu ihm hielt. Es scheint, dass ihm die Aufhebung des Parteiausschlusses damals den Rücken stärkte, in welcher Hinsicht, ist allerdings nicht ganz klar. Er schrieb einem Freund, dass man ihm im Rahmen der Hitlerjugend von hoher Stelle aus große Möglichkeiten geboten habe, die er leider bis jetzt noch nicht habe verwirklichen können. Unterschrieben hat er den Brief mit "Heil Hitler !" Entsprach das seiner wahren Gesinnung oder war es Tarnung?

Der Brief stammt aus dem Jahr 1940. Im diesem Jahr erfuhr Gerstein in einem Gespräch mit dem württembergischen Landesbischof Wurm, dass Hunderte von psychisch Kranken in eigens dafür hergerichteten Anstalten umgebracht wurden. Die Nachricht traf ihn sehr, denn seine eigene Schwägerin, Bertha Ebeling, gehörte zu den Opfern. Wie weit das seinen Willen zum Widerstand noch gestärkt hat, steht dahin. Soviel jedoch ist klar: Es war der Mord an den Kranken, der ihn dazu führte, "von innen her" den Verbrechen, die die Nazis an schuldlosen Menschen verübten, auf die Spur zu kommen. Den Eintritt in diesen Innenraum verschaffte ihm seine Mitgliedschaft in der SS und der Waffen-SS, wo er inzwischen ebenfalls Mitglied geworden war. Wieso er in diese Organisationen eintreten konnte ohne Parteimitglied zu sein, ist nicht ganz ersichtlich. Nach Friedländer hat Gerstein selbst verschiedene Gründe genannt; ganz überzeugend ist keiner.

Nach Ausbruch des Krieges erhielt er eine militärische Grundausbildung und wurde bald dem SS-Führungshauptquartier, Amtsgruppe D, Sanitätswesen der Waffen-SS, Abteilung Hygiene zugeteilt. In dieser Position erhielt er einen Auftrag, der streng geheim zu behandeln war: Er sollte 100 kg Blausäure besorgen und an einen Ort im Osten schaffen, dessen Name zunächst nicht genannt wurde. Dieser Auftrag gab Gerstein die Chance, die er lange erwartet hatte. Der Ort, der zunächst nicht genannt wurde, war das Vernichtungslager Belzec, und dort erlebte er das mit Schaudern und Abscheu, was wir heute aus Hunderten von Fernsehsendungen, von Spiel- und Dokumentarfilmen, aus Büchern und Zeitungen, und nicht zuletzt auch aus eigenen Reisen an die Orte des Grauens kennen. Schon am ersten Morgen wurde Gerstein Zeuge der Ankunft eines Deportationszuges, sah die Jammergestalten auf ihrem langen Zug zu den Gaskammern, roch den Geruch von Leichen und konnte kaum an sich halten vor innerer Bewegung.

Von nun an sah er seine Aufgabe darin, der Welt die Verbrechen, deren Zeuge er gewesen war, kundzutun, und er ergriff die erste Gelegenheit, die sich ihm bot. Auf der Rückreise im überfüllten Nachtzug Warschau-Berlin traf er auf einen schwedischen Diplomaten, den Gesandtschaftssekretär Baron von Otter, und erzählte ihm flüsternd, dicht neben ihm auf dem Gang stehend, was er erlebt hatte. Er beschwor ihn, das Gehörte nicht nur der schwedischen Regierung zu berichten, sondern auch an die Alliierten übermitteln. Wie Otter ihm bei einem späteren Treffen mitteilte, hatte sein Bericht erheblichen Einfluss auf die deutsch- schwedischen Beziehungen. Die Vereinigten Staaten jedoch erhielten diesen Bericht erst als der Krieg aus war.

Zurück in Berlin begann Gersteins bitterer Gang von einem Menschen zum anderen. Jeder, der ihn anhörte, war erschüttert, aber keiner fühlte sich stark genug, um Gegenschläge auch nur anzudenken. Im Fall der Euthanasie war das anders gewesen. Die Predigt des Bischofs Graf Galen war von Hand zu Hand gegangen und wurde in vielen Kreisen diskutiert. Im Jahr 1943 ließ Hitler die Aktion abstoppen. Hier, wo es nicht um unschuldige Geisteskranke ging, sondern vor allem um unschuldige Juden, geschah nichts dergleichen. Dabei war schon damals die Existenz der Lager durchaus bekannt, denn es gab viele Mitwisser: Angehörige der SS, Angestellte in den Lagern, die Direktoren, die die in Zweigbetrieben der Vernichtungslager von der Häftlingsarbeit profitierten, das Personal der Vernichtungszüge; ferner die Mengen von Spinnstoffen, Lederschuhen, Wertsachen, die den Opfern geraubt und der deutschen Volkswirtschaft zugeführt wurden. Friedländer erzählt, dass sich viele Eisenbahnreisende erhoben, um aus dem Fenster zu schauen, wenn ihr Zug am Lager Auschwitz vorbeifuhr. In der offiziellen Presse fand man gegen Ende des Krieges öfter die Formulierung "Ausrottung der Juden" - sie diente als warnendes Beispiel. Einer der wenigen, die ihre Stimme wirklich dagegen erhoben, war der Dompropst Lichtenberg in Berlin. Er wurde verhaftet und starb auf dem Transport nach Dachau.

Schlimm war die Reaktion der Alliierten und dabei waren sie es, auf deren Hilfe Gerstein vertraute. Der jüdische Weltkongress in Genf hatte Roosevelt schon im Juli 1942 die Tatsachen telegraphisch mitgeteilt, doch das Staatssekretariat des Äußeren forderte, diesen Bericht genauestens zu prüfen. Das dauerte drei Monate und dann beschlossen die Beamten des Außenministeriums, bei öffentlichen Mitteilungen über die Ausrottungsaktionen in den Lagern größte Zurückhaltung zu üben. Die Reaktion der Engländer, die dem Ort des Geschehens geographisch näher lagen, war noch eindeutiger. Gerade zu dieser Zeit hätte die Möglichkeit bestanden, sechs- bis siebentausend Juden aus Bulgarien zu retten. Doch wohin ? Die einzige Möglichkeit schien Palästina zu sein, doch für dieses Land hatten die Engländer schon 1939 ein striktes Einwanderungsverbot verhängt. Und außerdem: woher sollten sie die Schiffe für den Transport nehmen ?

Und wie stand es mit der Schweiz, diesem Land unmittelbar an der Grenze von Deutschland? Auch die Schweizer Regierung war durch den Jüdischen Weltkongress informiert worden, doch auch sie wiegelte ab. Die schweizerische Polizei erhielt den Befehl, alle Juden an der Grenze zurückzuschicken und es gab einen Katalog, der aufzählte, welche Kategorie von Flüchtlingen in der Schweiz Asyl finden durften: Deserteure gehörten dazu, entflohene Kriegsgefangene, politische Flüchtlinge. Aber die Juden galten nicht als politische Flüchtlinge. Sie waren nur wegen ihrer Rasse verfolgt.

Friedländer schließt diese Liste von Absagen mit dem deprimierenden Satz: "So wurde das christliche Abendland zum passiven Zuschauer bei der Ausrottung der Juden."

Gerstein überstand das Dritte Reich und befand sich bei Kriegsende nahe seiner Familie in Württemberg. Er ging der französischen Besatzungsarmee entgegen, bereit, Zeugnis über die Ausrottungsaktionen in den Lagern zu geben. Zunächst wurde er als Gefangener auf Ehrenwort in einem Hotel untergebracht, am 26. Mai 1945 jedoch von Soldaten des Abwehrdiensts nach Paris gebracht und von der französischen Abwehr verhört. Man behandelte ihn als Kriegsverbrecher, und er wurde eingekerkert im Militärgefägnis Cherche-Midi. Zur gleichen Zeit berichtete Radio Lyon über die Ausrottung der Juden durch Gas, und nannte als Quelle den Namen Kurt Gerstein.

Am 25. Juli 1945 wurde Gerstein tot in seiner Zelle aufgefunden. War es ein Selbstmord? Saul Friedenländer, der die Quellenlage genau entfaltet, sagt, wichtige Dokumente über diesen Zeitabschnitt seien verschwunden.

Buchhinweis: Saul Friedländer, Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten. München 2007.

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