Geschichte im Gang
Die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen eröffnet ihr neues Dokumentationszentrum
von Annette Langhorst
Nach zwei Jahren Bauzeit ist am vergangenen Wochenende
das neue Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Bergen- Belsen eröffnet
worden. Auf 1.500 Quadratmetern wird dort die gesamte Lagergeschichte
ausgebreitet. "Wir brauchen das hier als Gegenstück. Bisher
war das, was man in Bergen-Belsen sehen konnte, eigentlich ein Park."
Professor Ivan Lefkovic war acht Jahre alt, als er im Januar 1944 mit
seiner Mutter nach Bergen-Belsen gebracht wurde. Heute steht der Wissenschaftler
als einer der überlebenden Zeitzeugen mitten im 200 Meter langen,
mit 18 Metern Breite zugleich relativ schmalen monolithischen Baukörper
aus Sichtbeton: dem neuen Dokumentationsund Informationszentrum der Gedenkstätte
Bergen-Belsen.
Ein authentischer Ort, der den mit der Errichtung des
Lagers veränderten Verlauf der alten Landstraße exakt nachzeichnet.
"Der Besucher wird beim Durchschreiten zum ehemaligen Appellplatz
des Konzentrationslagers geführt. Entscheidend ist nicht die Außenwirkung
des Gebäudes, sondern der Weg hinein in das Lager, der durch das
Gebäude vorbereitet wird", erläutert Architekt Michael
Zimmermann. Er hat mit seinem Team eine kraftvolle, aber unaufdringliche
Architektur geschaffen.
Wie auf einer leicht ansteigenden Rampe geht der Besucher
durch das karge Ausstellungsgebäude. Keine Farbe, keine Schnörkel.
Nackter Beton. Videosequenzen holen den Besucher in die wechselvolle Vergangenheit
des Lagers. Zeitzeugen kommen mit ihren emotional berührenden Aussagen
vor einer sonst leeren Wand zu Wort. 340 Videointerviews hat die Stiftung
niedersächsische Gedenkstätten gemacht, die nun auf in Stelen
eingelassenen Monitoren gezeigt werden.
"Bei unseren vorbereitenden Besuchen der Gedenkstätten
in Israel und den USA haben wir gelernt, wie wichtig ,Oral History' neben
objektiven Dokumenten ist", erläutert Albrecht Pohle, Mitarbeiter
des niedersächsischen Kultusministeriums, der die Arbeiten über
viele Jahre begleitet hat.
Zum Teil haben sich die Überlebenden bis zu 14 Stunden
Zeit genommen, um ihre Erlebnisse und Erinnerungen an Bergen- Belsen für
die Ewigkeit zu sichern. "Das bin ich!", erzählt Francine
Christophe vor einer Vitrine stehend. Im Hintergrund laufen Ausschnitte
ihres Interviews. Mit 11 Jahren war sie gemeinsam mit ihrer Mutter Marcelle
aus dem Durchgangslager Drancy bei Paris nach Bergen-Belsen gebracht worden.
Heute ist sie mit ihrem Ehemann Jean-Jacques hier. Immer wieder berichtet
sie Besuchern, wie sie ihre Habe zurücklassen musste, als sie 1945
in den Evakuierungszug gesetzt wurde. Ein rostiger Topf mit Löchern,
aus dem sie gemeinsam mit ihrer Mutter ihr Essen eingenommen hatte, findet
sich heute als Leihgabe in einer der Vitrinen, die in den Boden eingelassen
sind und in denen zahlreiche persönliche Erinnerungsstücke gezeigt
werden.
Auch Leo Koretz und János Reisz sind zur Eröffnung
des Dokumentationszentrums an den Ort des Grauens zurückgekommen.
Die beiden Überlebenden haben ihre privaten Tagebücher für
die Ausstellung geöffnet. Richard Strauss, in Warschau geborener
Ungar, überwältigen die Tränen: "In letzter Zeit erzähle
ich eigentlich sehr wenig über meine Erlebnisse in Bergen-Belsen,
aber hier und heute sprudeln die Erinnerungen. Die Ausstellung ist gut
gemacht. Die Nazis wollten mich töten, aber ich habe überlebt
und will davon berichten."
Chronologisch geht es durch die mehr als zehnjährige
Lagergeschichte, vom Gefangenenlager über das Konzentrationslager
bis hin zum Camp für heimatlose Juden ("Displaced Persons")
nach dem Krieg. Elf internationale Experten unter der Leitung von Henry
Friedlander haben die Neugestaltung der Gedenkstätte seit 2001 ehrenamtlich
mit fachlichem Rat begleitet. Normalerweise, sagt der 77-jährige
Holocaust- Forscher aus New York, sei er sparsam mit persönlichen
Anmerkungen. Zur Eröffnung des Dokumentationszentrums macht Henry
Friedlander eine Ausnahme: Möglicherweise liege seine Mutter, die
er das letzte Mal 1944 im Lager Birkenau gesehen habe, auch hier, in einem
Massengrab in Bergen-Belsen.
Im Inneren des Gebäudes ragt ein schwarzer Turm auf:
Hier werden auf Monitoren die schrecklichen Bilder der Leichenberge, die
englische Kameraleute nach der Befreiung im April 1945 aufgenommen haben,
gezeigt.
Architektonische Besonderheit ist das schwebende Kopfende
des Betongebäudes. Es ragt zwei Meter in das Lagergelände hinein,
das als Friedhof nicht bebaut werden darf. Ein großer Einschnitt
im Baukörper ermöglicht den Blick hinaus und bezieht das ehemalige
Lagergelände in die Ausstellung ein. 13 Millionen Euro haben Land
und Bund je zur Hälfte in den Bau investiert. Menachem Rosensaft
ist einer der 1.500 Menschen, die in der letzten Phase des Lagers Bergen-Belsen
neben den Leichenbergen geboren wurden. Für ihn ist die neue Gedenkstättenarbeit
in Bergen-Belsen ein inspirierender Beweis: "Das jüdische Volk
lebt!"
Jüdische Allgemeine, 1.11.2007
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