Rückkehr zur Tradition
Warum die Reformbewegung die "Auferstehung der Toten" wieder
ins Gebetbuch aufnimmt
von Ben Harris
Von den vielen theologischen und liturgischen Fragen im
Zusammenhang mit dem in Kürze erscheinenden neuen Gebetbuch der Reformbewegung
war keine umstrittener als die Entscheidung, das Gebet für die Auferstehung
der Toten wieder aufzunehmen. "Ein heißes Eisen", meinte
Rabbi Elyse Frishman, Herausgeberin des neuen Siddur, Mishkan T'filah.
Die Frage wurde lange Zeit hin und her gewälzt. Verschiedene
Entwürfe wurden in Betracht gezogen und wieder verworfen. Dann beschloss
das Redaktionskomitee des Gebetbuches - dem Geistliche und Theologen,
Berufs- und Laienvertreter der Reformbewegung angehörten -, ganz
auf die Worte zu verzichten. Am Ende aber entschieden die Redakteure dennoch,
das Gebet neu zu beleben, dessen Eliminierung einst das Reinheitszeichen
der Re formtheologie war. "Damit geht die Reformbewegung zweifellos
einen Schritt auf die Tradition zu", urteilt Rabbi David Ellenson,
Präsident des Hebrew Union College/Jewish Institute of Religion.
Er selbst lehne die Idee einer Auferstehung im Wortsinne ab und sei überzeugt,
dass dies für die meisten Reformjuden zutrifft.
Mishkan T'filah, das in den kommenden Wochen erscheinen
soll, ist seit mehr als zwei Jahrzehnten in Vorbereitung. Womöglich
das demokratischste Gebetbuch aller Zeiten, wurde es jahrelang in hunderten
Reformgemeinden und auf wichtigen rabbinischen Konferenzen und anderen
Reformveranstaltungen getestet.
Das einzigartige, über zwei Seiten laufende Layout
des Buches ordnet neben dem liturgischen Text Auslegungen und Kommentare
an, was eine Vielfalt theologischer Denkansätze zulässt.
Im Allgemeinen räumen Insider der Bewegung ein, dass
die Änderung noch einmal bestätigt, was seit Langem zu beobachten
ist: die Hinwendung der Reformbewegung zur Tradition und ihre wachsende
Bereitschaft, liturgische Ausdrucksweisen und Rituale wieder in Gebrauch
zu nehmen, die einst im Namen der Modernität strikt abgelehnt wurden.
Doch wie es sich für ein Gebetbuch ziemt, das für
die verschiedenen Glaubensrichtungen und -praktiken von Wert sein will,
brachten die Mitglieder des Redaktionskomitees unterschiedliche und bisweilen
entgegengesetzte Erklärungen für die Wiederaufnahme des Gebets
vor. Insbesondere variierten die Anschauungen darüber, ob die Änderung
lediglich besagt, dass der Umgang mit liturgischen Metaphern heute leichter
fällt als früher, oder ob sich darin eine tiefere Änderung
in der Reformtheologie spiegelt.
Die Pittsburgh-Plattform der Reformbewegung im Jahr 1885
lehnte die Idee einer körperlichen Erweckung der Toten ab, denn eine
solche Vorstellung galt als unzeitgemäß, unwissenschaftlich
und irrational.
"Für die Reformer des neunzehnten Jahrhunderts
war die Idee, dass das Judentum an eine Auferstehung der Toten glaubt,
sicherlich die Antithese zu jenem rationalen Judentum, von dem sie meinten,
dass die meisten Juden es wünschten und erwarteten", erläuterte
Jonathan Sarna, Professor für jüdische Geschichte an der Brandeis-Universität.
In früheren Reform-Gebetbüchern wurde die traditionelle
Segnung Gottes als desjenigen, der die Toten zum Leben erweckt, "mechaje
hametim", zu "mechaje hakol", der alles Leben spendet,
abgewandelt. Das neue Gebetbuch enthält die modifizierte Fassung,
hält für die Gläubigen als Alternative aber auch die uralte
Formulierung bereit. Viele, wenn nicht alle der an der Herstellung des
Mishkan T'filah Beteiligten, lehnen die Idee, dass Gott buchstäblich
Leichen aus der Erde holt, weiterhin ab. Doch gilt die Wendung, metaphorisch
verstanden, als hinreichend sinntragend für die Menschen, dass sie
es wert war, wieder aufgenommen zu werden.
"Die traditionelle Sprache wiederzugewinnen ist für
eine Reihe von Menschen in unserer Bewegung sehr, sehr wichtig",
sagte Frishman. "Und wenn diese Sprache einen positiven Nachhall
findet, möchten die Menschen sie auch wiederhaben."
Die Mitglieder des Redaktionskomitees warten mit verschiedenen
metaphorischen Deutungen des Gebets auf; das reicht von der Auferweckung
nach einem chirurgischen Eingriff bis hin zur Idee, dass das jüdische
Volk nach dem Holocaust in der Wiedergeburt des Staates Israel wiederauferstanden
ist.
Andere sind jedoch weniger bereit, die Idee der Auferstehung
als bloß metaphorischen Einfall abzutun. Sie argumentieren, dass,
wenn es ein Leben nach dem Tod gibt - eine Vorstellung, der das Reformjudentum
nie abgeschworen hat -, es ein leibliches Leben sein muss, da die Menschen
sich nur so kennen.
"Das Thema ,Leben nach dem Tod' ist aus verschiedenen
Gründen sehr schwierig für den modernen Menschen", sagte
Eugene Borowitz, Professor am Hebrew Union College und einer der angesehensten
jüdischen Philosophen der Welt. "Aber wenn man dies einmal verstanden
hat, gibt es gute Gründe, zu hoffen, dass es ein Leben nach dem Tod
gibt. Und da wir uns als leibliche Personen kennen, ist die traditionelle
Terminologie sinnvoll, auch wenn man es ganz poetisch verstehen muss."
Borowitz schreibt die theologische Wende dem Einfluss
des feministischen Denkens zu, das eine Überprüfung der strikten
Trennung zwischen Körper und Seele ertrotzte.
"Gender ist im Wesentlichen eine leibliche Sache",
sagte er. "Das heißt, der Körper ist für das richtige
Begreifen unseres Selbst ganz entscheidend. Wenn wir also hoffen, dass
Gott uns Leben gewähren wird - samt all den Schwierigkeiten, die
dieser Satz in sich schließt - bringen wir auch zum Ausdruck, dass
in einem gewissen Sinne das Leben nach dem Tod ebenso leiblich ist."
Einer, der lange Zeit auf die Wiederaufnahme des Gebets
gedrängt hat, ist Neil Gillman, konservativer Rabbiner und Verfasser
eines Buches über Tod und Wiederauferstehung im jüdischen Denken.
Dass Gillmans Buch Der Tod des Todes (The Death of Death) die Überlegungen
des Redaktionskomitees beeinflusst hat, ist unbestritten.
"Als die Rabbiner sich ausmalten, wie Gott uns für
die Ewigkeit haben will, stellten sie sich vor, Gott würde uns so
haben wollen, wie wir jetzt, in historischer Zeit und in der Gesellschaft,
sind - als leibliche Wesen", sagte Gillman. "Die Art und Weise,
wie wir jetzt sind, ist so wichtig und wird von Gott so sehr wertgeschätzt,
dass er uns auch für die Ewigkeit so haben will."
Auferstehung und Wiedergeburt
sind zentrale Prinzipien des traditionellen Judentums,
das davon ausgeht, dass der Tod nicht das Ende der menschlichen Existenz
ist. Im Hebräischen gibt es das Wort der "Olam Haba", der
kommenden Welt, die für das spirituelle Leben nach dem Tod steht.
Die Auferstehung der Toten "Techijat HaMetim" ist indirekt oder
direkt in der Tora und der gesamten hebräischen Bibel mehrmals erwähnt,
zum Beispiel im 5. Buch Moses (32,39): "Ich töte und belebe."
Oder im Buch Daniel (12,2): "Und viele von denen, die schlafen im
Erdenstaube, werden erwachen." Um die Auferstehung geht es auch in
den 13 Glaubensgrundsätze des Maimonides (Moses ben Maimon, Rambam):
"Ich glaube in ganzem Glauben, dass einst zu seiner Zeit, wenn es
dem Schöpfer, gelobt sei sein Name und erhoben sein Gedenken immer
und ewig, wohl gefällt, die Toten auferstehen werden." Die Idee
der Reinkarnation (Gilgul HaNeschamot) ist ein wichtiges Element der jüdischen
Mystik und wird in den bedeutenden kabbalistischen Werken, wie zum Beispiel
im "Sefer HaBahir", behandelt. Der Ari, ein berühmter Kabbalist
des 16.Jahrhunderts, beschäftigt sich mit der Wiedergeburt in seinem
Buch "Schaar HaGilgulim" (Tor der Reinkarnationen).
Jüdische Allgemeine, 1.11.2007
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