Die Synagogen der Fassis
Ein Ritus, älter als der Exodus der Sefardim
von Simon Levy, Casablanca
Fassis - so nennt man die Einwohner von Fès, jener
Stadt im Norden Marokkos mit beinahe einer Million Einwohnern, die oft
als geistiges Zentrum des Königreiches in Nord-afrika betrachtet
wird. Ihr Name soll auf Fas, arabisch für die Hacke der Feldarbeiter,
den Fund oder die Benutzung dieses Gerätes bei der Stadtgründung
hindeuten. Fes-el-Bali, die Altstadt aus dem 9. Jahrhundert mit ihrem
Gässchengewirr, in dem man sich ohne Führer kaum zurechtfindet,
gilt als das Musterbeispiel einer orientalischen Stadt überhaupt
und steht seit 1981 als Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO. Das
tiefe Blau seiner Keramik gilt als Wahrzeichen von Fès. Fez ist
auch die Bezeichnung für eine traditionelle arabisch-türkische
Kopfbedeckung.
Eine jüdische Besiedlung unter den berberischen Stämmen
in der Region gilt heute als sehr wahrscheinlich. In zahlreichen Gründungssagen
der Stadt wird dies vielfach erwähnt. Sicher ist, dass um das Jahr
800 das Fès des Königs Idriss II., die so genannte "Al
Alia", zu Deutsch "hohe Stadt", ein weitläufiges jüdisches
Viertel hatte. Es erstreckte sich zwischen den beiden Stadttoren "bab
Hisn Saedoun" und "bab Aghlan".
Im 14. Jahrhundert, nach den geschichtlichen Erschütterungen
unter den fundamentalistischen Almohaden, entstand im günstigen Klima
der Dynastie der Meriniden ein neues jüdisches Viertel. Das Viertel,
der Mellah, wurde zusammen mit "Fès Jdid", der "Neustadt",
auf dem Grund eines ehemaligen Salzmarktes erbaut. Dieses etwa anderthalb
Hektar große Grundstück war nach der Auflösung eines Militärverbandes
aus Sevilla unbebaut geblieben. Die Juden von Fès besiedelten das
Viertel und fühlten sich dort, in der Nähe des Königspalastes,
geschützt von der Stadtmauer, inmitten ihrer Synagogen und koscheren
Metzgereien wohl. Der Königspalast beschäftigte zahlreiche jüdische
Handwerker: Schneider, Goldschmiede und Münzenpräger.
Der Mellah, das Viertel der Juden, war neben dem bis hinein
ins 17. Jahrhundert bestehenden Mellah der Moslems die Metropole des marokkanischen
Judaismus mit seinen Rabbinern und religiösen Schulen - und ein Spiegelbild
der auf moslemischer Seite blühenden wissenschaftlichen Stätten
der Qaraouiyine, der seinerzeit legendären Universität von Fès.
1492 zog diese glanzvolle Stadt einen großen Teil
der aus Spanien verjagten Juden an. Die damals herrschende Dynastie der
Bani Wattas empfing sie wohlwollend. Dieser hispanophone Judaismus mit
seinen Rabbinern und Gelehrten bildete bald die Mehrheit unter den Juden
von Fès. Die spanischen Juden brachten ihren Ritus und ihre Gebetstexte
mit, die sich von denen der alten jüdischen Bevölkerung unterschied.
Es bildeten sich für etwa ein Jahrhundert zwei Gemeinden: die der
Spanier, genannt Ruama oder meghorashim und die altansässigen, die
beldiyin. Jede Gemeinde besaß ihre Synagogen und natürlich
auch jede eine Hauptsynagoge.
1651 wurden auf Befehl des Scheichs der Zaouia Dila'iya,
einer einflussreichen marokkanischen Bruderschaft, die zwei Hauptsynagogen
und vier kleinere zerstört. Für diesen Dogmatiker waren sie
illegal, da sie nach der "Ankunft" des Islams erbaut worden
waren.
Wenig später wurde Marokko unter Moulay Rachid vereinigt,
dem ersten König der Dynastie der Alawiten, die hier bis heute herrscht.
Man sagt sogar, er zog in Fès durch den Mellah der Juden ein. Von
Fès ausgehend bekämpfte er die Dila'yin, belagerte ihre Hauptstadt
Zaouia Ait Ishaq und machte sie dem Erboden gleich, nachdem er 1.600 dort
ansässige jüdische Familien nach Fès geschickt hatte.
Mit diesem neuerlichen Zuzug dehnte sich der Mellah bald weit außerhalb
seiner Mauer aus.
Ein Teil des Ausbaugebietes entlang der südöstlichen
Stadtmauer wurde für sakrale Bauten reserviert. Zwei große
Synagogen wurden hier nun gebaut: Slat Selomo Danan, die von der "Stiftung
zur Bewahrung des jüdisch-marokkanischen kulturellen Erbes"
bereits restauriert werden konnte und in der gleichnamigen Straße,
an der Stadtmauer angelehnt, eine neue Synagoge für die Altansässigen:
Slat el-fassiyin. So löst sich das lange bestehende Mysterium einer
Synagoge der Fassis in Fès auf: es war die Synagoge mit einem speziellen
Ritus, der sich von dem, in Marokko allgemeingültigen sefardischen
Ritus, zum Teil unterschied.
Dieser Ritus wurde in der Gebetssammlung "Ahabat
ha Qadmonim", übertragen für "geliebte Altvorderen",
nach jahrhundertlangem mündlichen Bestand im 19. Jahrhundert gesammelt
und in Buchform herausgegeben.
Slat el-fassiyin hatte also ihre Besonderheiten, die von
den alten Familien aus Fès gepflegt wurden. Zu den Hohen Feiertagen
und großen Festen sowie zum Schabbat versammelten sie sich dort.
Bis in die 1950er Jahre hinein blieb diese Synagoge während der gesamten
Woche offen. Auch für die Mincha am frühen Nachmittag oder sobald
ein Minian sich sammelte, wurde das Gebet begonnen, manchmal neben einem
oder mehreren anderen Minian. So war Fès eine beschäftigte,
immer sich in Eile befindliche, jedoch zugleich zutiefst religiöse
Stadt.
Die Synagoge Slat el-fassiyin hat im Laufe ihres langen,
vor drei Jahrhunderten begonnenen Bestehens etliche Wirrungen erlebt.
Zwischen 1791 und 1792 ließ der damalige König Moulay Yazid
die Juden aus dem Mellah vertreiben, um sie in einem Hüttendorf an
der Qasba der Chrarda, einer militärischen Anlage außerhalb
der Stadtmauer, anzusiedeln. Slat el-fassiyin wurde zu einem Gefängnis
für "widerspenstige" Juden, eine Moschee wurde mitten im
Mellah erbaut, die bald zu einem militärischen Objekt wurde. Moulay
Yazid wurde jedoch vor Marrakech getötet und Moulay Slimane, Ha Melekh-He
Chasid, "der gerechte König", nahm seinen Thron ein. Er
befahl die Zerstörung der Moschee, da er sie für ungerechtfertigt
erbaut und somit für unrein hielt. Die Juden kamen in ihr Viertel
zurück und beteten lange Zeiten noch entsprechend ihres speziellen
Ritus in dieser etwas anderen Synagoge: weder aschkenazi, noch sephardi
- nur fassi.
1972 kam jedoch das Ende: Lampen und Möbel wurden
verteilt und verschwanden in diesen traurigen Tagen des Mai und Juni 1972
nach so vielen geschichts- und gebetsträchtigen Jahrhunderten. Noch
trauriger machte nur ihr eiliger und unüberlegter Teilverkauf, der
diese stolze Synagoge erst in eine Teppichweberei und später sogar
in einen Boxclub verwandelte!
Diese traurigen Zeiten sind jedoch vorbei. Das Ziel ist
die Rettung dieser geschichtsträchtigen Synagoge. Eine Gruppe aus
fünf Professoren der Hochschule für Architektur Valencias hat
einen Restaurierungsplan erstellt. Mit der Unterstützung der Stadtoberen
von Fès wurden die sportlichen Aktivitäten eingestellt. Es
bleibt der Rückkauf der veräußerten Anteile, um mit der
längst fälligen Restaurierung der Synagoge beginnen zu können.
Die "Stiftung zur Bewahrung des jüdisch-marokkanischen
kulturellen Erbes", die immerhin schon die Synagoge Slat Selomo Danan
zu neuem Leben erwecken konnte und die Jüdische Gemeinde zu Fès
werden die notwendigen erheblichen Investitionen nur mit der Hilfe anderer
Geber erbringen können. So stehen die Mitarbeiter der Stiftung jederzeit
für interessierte Sponsoren und Privatpersonen als Ansprechpartner
zu Spendenmöglichkeiten zur Verfügung.
Die Stiftung wurde Anfang der 1990er Jahre mit dem Ziel
gegründet, bauliche Zeugnisse des jüdischen Lebens in Marokko
zu bewahren und einem marokkanischen sowie internationalen Publikum zugänglich
zu machen. In den Jahren seit ihrer Gründung wurden bereits mehrere
Synagogen in großen Städten wie Tetouan und Fès, aber
auch in kleinere Ortschaften wie Ighil-Nogho, liebevoll und aufwendig
restauriert und geöffnet. Die Stiftung unterhält außerdem
ein Museum in Casablanca, das zahlreiche Artefakte der jüdischen
Gemeinden Marokkos aufbewahrt. Ein Besuch lohnt sich, ebenso wie das persönliche
finanzielle und ideelle Engagement für die Ziele der Stiftung.
Unser Gastautor Simon Levy ist Generalsekretär
der Stiftung in Casablanca. Der Beitrag wurde redaktionell von Johann
L. Juttins bearbeitet.
"Jüdische Zeitung", September 2007, www.j-zeit.de
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|