"Schalom" meint Ganzheit durch Gott
Zur Bedeutung eines Grundbegriffs des Judentums
von Rabbiner Tom Kucera
Viele Worte in unserem jüdischen Alltag sind uns
selbstverständlich, doch über die breitere Bedeutung von ihnen
sind wir uns dennoch nicht immer bewusst. So ist es auch mit dem oft benutzten
Wort "Schalom". Die deutsche Dichterin Nelly Sachs umschrieb
diesen Begriff als "eine Schmetterlingszone der Träume - wie
einen Sonnenschirm - der Wahrheit vorgehalten". In seiner Urbedeutung
meint dieses hebräische Wort jedoch eine Vervollständigung.
Von diesem Substantiv gibt es auch das Verb "lehaschlim", "komplettieren,
vervollständigen". Es deckt sich also nicht unbedingt mit dem
deutschen Wort "Friede". Wo Schalom ist, findet sich nicht nur
Sicherheit und Ruhe, sondern auch Gesundheit und Freude. Wenn wir auf
Hebräisch wissen wollen, wie es einer Person geht, fragen wir: "Ma
schlomech?" - "Was ist dein Schalom?" Wir erkundigen uns
nach dem Wohlbefinden der Person, wir wünschen ihr, was für
sie wertvoll ist. Schalom ist mehr als Friede, es ist Zufriedenheit -
"Zu-Frieden-heit". Nicht der Zustand, sondern der Weg dazu.
Gegen Ende jedes Gottesdienstes singen wir das Lied "Osse
schalom bimromaw, hu ja'asse schalom alejnu", also "Derjenige,
der den Frieden in den Höhen schafft, möge er auch für
uns den Frieden schaffen". Schöne Worte, doch ein bisschen unlogisch.
Dass wir hier auf Erden den Frieden brauchen, das ist verständlich.
Doch warum soll er auch in den Höhen geschaffen werden, symbolisch
in einem nicht physischen, übermenschlichen, harmonischen Gebiet?
Jüdische Tradition verstand die Höhen als die Darstellung zweier
Elemente, nämlich Feuer und Schnee, die als Gegensätze nebeneinander
stehen, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen. Sogar die Welt
der Höhen, in der es zwar keinen Neid und Hass gibt, wohl aber die
gegensätzlichen Elemente Feuer und Schnee, braucht einen Schalom.
Umso mehr braucht ihn die andere, gewöhnliche Welt.
Schalom steht in der Hierarchie höher als die Wahrheit.
Wieso? Wir kennen die Geschichte von Josef, der von seinen Brüdern
verkauft wird, in der Sklavenschaft eine außergewöhnliche Karriere
macht und seine Brüder später trifft und sogar in sein Haus
aufnimmt. Als ihr Vater jedoch stirbt, fürchten die Brüder,
dass Josef sich jetzt an ihnen rächen wird. Daher sagen sie zu ihm:
"Dein Vater befahl vor seinem Tod und sprach: "Sagt Josef: Vergib
doch deinen Brüdern"". Das Problem dabei ist, dass im Text
zuvor nirgendwo solche Worte des Vaters zu finden sind. Die jüdische
Tradition schließt aus diesem textlichen Problem, dass diese Aussage
eine reine Erfindung der Brüder ist. Aus welchem Grund? "Mipnej
darchej schalom", wegen des Friedens, "for peace". Die
Notlüge scheint legitim, wenn Schalom gerettet werden kann, weil
er höher als die Wahrheit steht. Wahrscheinlich auch deswegen, weil
er im Gegensatz zur Wahrheit nie endgültig gesichert ist. Der Friede
dauert immer nur einen Augenblick, bis sich ein anderes Äquilibrium
einstellt und neue Spannungen entstehen. Deswegen sympathisieren wir mit
der rabbinischen Aussage: "Jeder Friede, der nicht von einer Zurechtweisung
begleitet ist, ist kein Friede." Also - eine automatische Zustimmung
fördert den Frieden nicht, sondern steht ihm im Wege. Schalom ist
nicht mit Konfliktvermeidung zu verwechseln. So ahnen wir, dass er labil
ist, sowohl im individuellen als auch im kollektiven Bereich. Deswegen
kommt dieses Konzept nicht nur in den genannten narrativen, sondern auch
in den Rechtstexten des Judentums vor, die die Kleinigkeiten des alltäglichen
Lebens behandeln. Zum Thema "Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden"
lehrten die Rabbiner: Man ernähre die Armen der Nichtjuden mit den
Armen Israels, und - man besuche die Kranken der Nichtjuden mit den Kranken
Israels. Aus welchem Grund? "Mipnej darchej schalom", wegen
des Friedens, "for peace".
In dem anfangs erwähnten Synagogenlied singen wir
"Hu ja'asse schalom alejnu", möge er auch den Frieden für
uns schaffen. Auf wen bezieht sich dieses "uns"? Dem traditionellen
Text gemäß auf das Volk Israel. Doch in vielen Gemeinden, die
in der Tradition des liberalen Judentums stehen, fügen wir immer
hinzu: "We'al kol joschwej tewel", für alle, die diese
Erde bewohnen. Das ist der universalistische Ansatz, der zeigt, dass wir
uns um den Schalom global bemühen müssen. So schreibt der Gelehrte
Hillel im ersten Jahrhundert v.d.Z.: "Rodef schalom", jage dem
Frieden nach. Hillel möchte damit sagen, dass Schalom nicht von selber
kommt, sondern dass wir uns ständig aktiv um ihn bemühen müssen.
Doch: wenn man etwas nachjagt, hat man keine Ahnung von der genauen Richtung,
die man nimmt. Das kann als Risiko gesehen werden, ist aber eine große
Chance, diese Welt zu gestalten und zu ändern. Rabbi Akiwa vergleicht
Ähren vom Feld mit dem gebackenen Brot und dann ein Flachsbündel
vom Feld mit den daraus gemachten feinen Kleidern - und in beiden Fällen
fragt er rhetorisch: Ist nicht das Werk der Menschen schöner und
besser? Von der Landwirtschaft sind wir heutzutage weit entfernt, doch
die Idee bleibt bestehen: Jeder Mensch soll etwas in der Welt anders machen;
ja, schöner machen. Jeder Mensch und auch jedes Kind, denn nach einem
Gedanken aus dem Talmud besteht diese Welt nur durch den Hauch der Schulkinder.
Möge dieses Konzept ein Ergebnis der bevorstehenden
Jamim nora'im sein, in denen wir auch das ausgehende jüdische Jahr
Revue passieren lassen. Wenn wir einen guten Eintrag im Buch des Lebens
bekommen, werden wir auch unseren Weg im Schalom weitergehen können.
"Leschana towa nikatewu."
"Jüdische Zeitung", September 2007, www.j-zeit.de
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|
|