Bedroht in "Hamastan"
Wie lebt es sich in Gaza?
von Inge Günther
Asis Asis, ein Fabrikant ohne Kunden
Asis Asis fährt mit dem Zeigefinger über die
Staubschicht auf der Nähmaschine. Seitdem die Jeansfabrik in Tal
al-Sata, nördlich von Gaza-City, Mitte Juni schließen musste,
war er nur zweimal in der Fertigungshalle im ersten Stock. Asis Asis erträgt
es nicht, zusehen zu müssen, wie das Familienunternehmen verkommt.
In den fünfzig Maschinen sammeln sich Schmutzflocken. 5000 genietete
Hosen und Mini-Röcke warten, in Säcken verpackt, auf den Versand
nach Israel. Doch Karni, die Grenzkontrollstelle für den Warenverkehr
zwischen Gaza und Israel, ist seit vier Monaten dicht; Ende und Aus zugleich
für 964 palästinensische Textil-Manufakturen.
Asis Asis und seine fünf Brüder, denen die Jeansfabrik gemeinsam
gehört, wussten es sofort. Am Tag, als die Hamas die Macht in Gaza
an sich riss, stellten sie die Produktion ein. "Wenn Israel Karni
schließt, kann man einpacken", sagt der 36-Jährige und
klopft sich die Hände ab. Nur haben sie alle gehofft, dass die Krise
spätestens in zwei Monaten vorbei ist, die Gebrüder Asis genauso
wie ihre achtzig Arbeiter und die israelischen Partner. In ihrer Verzweiflung
haben Asis und seine Brüder sogar riesige Koffer mit Jeans vollgepackt,
um sie über den Grenzübergang Eres rauszuschleppen. Als palästinensische
Handelstreibende besitzen sie eine Einreiseerlaubnis nach Israel. Aber
die Grenzkontrolleure gaben sich unerbittlich. In Eres werden höchstens
Personen, keine Güter rübergelassen.
Jetzt versucht der älteste Bruder, Abed Rabbo, in
der Westbank sein Glück, in Tulkarem, das nahe an Israel liegt. Dort
hat schon ein anderer Textilproduzent aus Gaza eine Werkstatt aufgemacht.
Abed Rabbo will es ihm nachtun. "Natürlich wird er klein anfangen
müssen", sagt Asis. Doch sobald wieder Geld verdient werde,
wolle der Bruder die Seinen in Gaza unterstützen.
Das Problem ist, dass Abed Rabbos Aufenthaltsgenehmigung
für die Westbank inzwischen abgelaufen ist. Asis Asis will sich trotzdem
nicht unterkriegen lassen. Rasch zieht er einen Packen mit Musterexemplaren
heran, den er mit den Zähnen aufknüpft. Darin: Jeansmode in
allen Größen und Schattierungen, gebleicht und mit bunten Ziernähten
versehen. Grinsend hält er sich sexy Shorts vor den Bauchansatz.
"So was trägt man nicht in Gaza", lacht er. Er produziert
nach jedem Schnittmuster, das die Israelis wünschen. Etwa 2,60 Euro
kostet das Nähen einer Jeans in Gaza. "Lass sie wieder Karni
öffnen", sagt Asis Asis, alles andere interessiert ihn wenig.
Er will die Nähmaschinen wieder rattern hören, aber nichts von
Hamas und Fatah. "Wir zahlen den Preis, weil die ihre Probleme nicht
lösen können."
Samira Abu Nahil, eine Mutter unter Beobachtung
Besuch steht ins Haus. Blitzschnell wirft sich Samira
Abu Nahil, 46, den buntgeblümten Schleier über. Ihre ältere
Tochter Lumin, 19, die an der säkularen AlAshar-Universität
Jura studiert, bleibt wie sie ist. Zumindest daheim läuft sie rum,
wie es ihr passt, und versteckt ihren prächtigen Haarzopf nicht.
Vor dem Hamas-Putsch ist Lumin vom Flüchtlingslager Schati aus auch
an den Strand ohne Kopftuch gegangen. Inzwischen macht sie das nicht mehr.
"Die soziale Kontrolle wächst", klagt sie.
Palästinenserinnen in Gaza erleben den Druck, sich
"islamischer zu verhalten". Samira und Lumin sind zu nichts
gezwungen worden, aber sie haben das Gefühl, auf dem Rückzug
zu sein. Früher hat Samira oft das Women's Affair Center in Gaza-City
besucht, eine palästinensische Frauenorganisation. "Wir waren
gewöhnt, zu Konferenzen oder zu Demos zu gehen", sagt Samira
Abu Nahil. "Jetzt trauen wir uns nicht mal zu reden. Selbst in den
Frauenklub kommt keine mehr."
In ihrem Wohnzimmer nimmt Samira kein Blatt vor den Mund:
"Jede Menge ist schlechter geworden seit Juni." Man muss dazu
wissen, dass die Familie der Fatah nahesteht. Zwei der Söhne, 22
und 26 Jahre alt, die bei den alten Autonomiebehörden beschäftigt
waren, sind aus Furcht vor der Rache der Hamas nach Ägypten geflüchtet.
Samira lässt denn auch nichts aus, wenn sie das islamistische Regime
anprangert. Dass deren Polizei Bußgelder gegen Demonstranten verhängt
- "das hat sonst nur die israelische Armee gemacht" -, empört
sie genauso wie die gestiegenen Preise.
Infolge der strikten Abriegelung des Gazastreifens kostet
ein Sack Mehl fünfzig Prozent mehr als vor einem Jahr. Weißen
Käse, der zum Fastenmonat Ramadan gehört wie Gebäck zu
Weihnachten, leistet sich die Familie nicht mehr.
Das Leben in "Hamastan" ist in vieler Hinsicht
eingeschränkt. Lumin, die sich von einem Film über Bill Clinton
zu ihrer Studienwahl inspirieren ließ, träumt davon, nach Amerika
zu gehen. Das Sofakissen an die Brust gedrückt, spricht sie von der
Angst unter den Studenten und dem Überdruss, nur noch zu Hause zu
hocken.
Ein Zeichen der Hoffnung allerdings sieht sie: Es ist
gelb und flattert auf den Hausdächern über Gaza. Aus Protest
gegen die Hamas wird derzeit gerne die Fahne der Fatah gehisst. "Mich
macht das optimistisch", sagt Lumin. Ihre Mutter nickt. Nur, hier
im Schati-Camp hängt sie keine gelbe Flagge raus: "Alle Nachbarn
ums uns herum gehören zur Hamas."
Mussa Abu Rasal, ein Vater in Angst
Neulich hat sein jüngster Sohn wissen wollen, wie
man Jehije aus dem Himmel herunter bekomme. Auch dass Jehije nur als Foto
auf dem Handy des Vaters erscheint, aber nicht mehr beim Spiel, geht dem
Knirps nicht in den Kopf. Auf die Fragen seines Vierjährigen weiß
der Vater keine Antwort. "Inschallah", sagt er dann und wendet
sich ab. Sechs Wochen ist es her, dass der zwölfjährige Jehije
starb. Am Nachmittag des 29. August traf eine israelische Rakete ihn,
den jüngeren Vetter Mahmoud und die neunjährige Cousine Sara.
Die drei Kinder waren wie jeden Tag in den Sommerferien mit den Schafen
unterwegs gewesen. "Dort bei der Palme geschah es", sagt Mussa
Abu Rasal, 36, und weist auf ein 500 Meter entferntes Gelände. Er
ist auf das Geschrei der Nachbarn hin sofort hingerannt, hat den von Schrapnellwunden
übersäten Körper seines Jungen zur Ambulanz getragen. Rettung
gab es nicht.
Hier bei Beit Hanoun, im Norden des Gazastreifens, befindet
sich das Gebiet, von dem militante Palästinenser bevorzugt Kassem-Raketen
auf Israel abschießen. Die Kombattanten sind in der Regel vermummt.
Zu welcher Organisation sie gehören, "weiß man nicht",
sagt Abu Rasal. Aber wenn sie den Häusern nahe kommen, "schicken
wir sie weg".
An jenem Tag ließ sich keiner blicken. Nach israelischer
Darstellung hielten die Soldaten die Kinder im Gebüsch aber für
"Terrorgehilfen", die womöglich eine Abschussrampe wegschaffen
wollten. Der Irrtum sei fünf Sekunden zu spät bemerkt worden.
Er war keine Ausnahme. Laut der Menschenrechtsorganisation B'Tselem sind
in zwölf Monaten 92 palästinensische Kinder bei Armeeaktionen
ums Leben gekommen.
Abu Rasal hat jetzt einen Anwalt beauftragt, Israels Militär
zu verklagen. "Sie sollen den Verantwortlichen bestrafen und Entschädigung
bezahlen." Was er gegenüber Israelis empfinde? "Was denkt
Ihr? So ein Vorfall schafft Hass."
Abu Rasal hockt an einem Betonpfeiler, sein Blick geht
ins Nirgendwo, neben ihm spielen Kinder. "Wir haben täglich
um sie Angst", sagt er. "Hier ist Grenzgebiet, sobald wir Verdächtiges
bemerken, müssen sie rein." Abends trauen sich selbst Erwachsene
nicht aus dem Haus. Nach einer Pause sagt Abu Rasal noch etwas: "Ich
will in Frieden leben. Aber erzähl mir keiner, dass Militärvorstöße
und Frieden einhergehen."
Frankfurter Rundschau, 10.10.2007
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