"Es gibt keine Neo-Nazis in Israel"
Jugendliche Außenseiter in Israel offenbaren große soziale Probleme des Staates
von Frank König

Es fällt schwer zu glauben, dass es in Israel Sympathisanten der Nazi-Ideologie geben kann, aber es ist eine Tatsache", sagte der Bürgermeister von Petach Tikva, Revital Almog, gegenüber israelischen Polizeibehörden. Durch eine Reihe von rechtsextremen Schandtaten einer Gruppe von jungen Neo-Nazis gelangte die israelische Stadt Petach Tikva in die Schlagzeilen. Premierminister Ehud Olmert bekannte laut einem Bericht der BBC: "Ich bin sicher, dass auch wir als Gesellschaft bei der Erziehung dieser Jugendlichen versagt haben." Arieh O-Sullivan, Sprecher der "Anti-Defamation League", die sich gegen Antisemitismus einsetzt, sagte: "Die tragische Ironie liegt darin, dass diese Jugendlichen selbst der Vernichtung der Nazis zum Opfer gefallen wären, die sie nachahmen wollen."

Der in Haifa an der "Social School of Work" lehrende Universitätsdozent Zeev Winstok ist der führende Experte, wenn es um Fragen sozialer Integration und pädagogischer Arbeit mit verhaltensauffälligen Jugendlichen in Israel geht. Als das Thema der Neo-Nazis nun über die Grenzen Israels hinaus hochkochte, fühlte er sich geradezu "genötigt", die landesweite Aufregung auf ein nüchternes, wissenschaftliches Maß zurechtzurücken. Sehr kritisch geht Winstok mit Israel ins Gericht. Gegenüber "ynetnews" und der "Jüdischen Zeitung" empört er sich darüber, dass man die rechten Gewalttäter in Israel zu vorschnell, wenn auch zum Teil berechtigterweise, in die "Neo-Nazi-Schublade" wirft.

"Das löst die grundsätzlichen, sozialen Probleme, die dahinter stecken, überhaupt nicht, es gibt in Israel keine Neo-Nazis", betont Winstok ausdrücklich. "Das sind keine rechten Überzeugungstäter. Diese Jugendlichen haben überhaupt keine Ahnung davon, womit sie sich angeblich identifizieren und was ihr Verhalten repräsentiert. Sie verspüren allesamt einen sehr starken, schlecht zu kontrollierenden Hass. Und zwar der Gesellschaft insgesamt gegenüber. Sie hassen Juden, nichtreligiöse und dunkelhäutige Menschen, Ausländer oder Homosexuelle gleichermaßen. Deshalb greift der Begriff von "Nazis" bei genauerer Analyse nicht wirklich. Viele unserer Studien machen das deutlich. Diese Jugendlichen suchten und fanden gerade in Israel die provokativste Art und Weise zu schocken, nämlich als vermeintlich jüdische "Nazis" gegen Juden vorzugehen. Ihre verwirrten Ideen bauten sich im Rahmen dieses Verhaltensmusters immer stärker auf."

Zeev Winstok verweist mit Nachdruck darauf, dass die Überlegung völlig "nebensächlich ist, inwieweit die auffälligen Jugendlichen bestimmtes Gedankengut von zu Hause aus einfach übernehmen". Vielmehr dürfe man nicht vorschnell unterschlagen, dass "während der Adoleszenz-Phase Jugendlicher es einen ganz eigenständigen, psychophysischen Bereich gibt, deren Funktionen eine spezifische, nicht austauschbare Individualität aufbauen. Auf dem Weg dieser Entwicklung haben diese heranwachsenden Jugendlichen - diese ‚Neo-Nazis' - ihren jeweils eigenen Persönlichkeitspfad verloren."

In Israel ist bezüglich der unlängst verhafteten Jugendlichen bereits vom "Gipfel des Eisbergs" die Rede gewesen. Inwiefern sind solche Formulierungen zutreffend? "Diese jungen Menschen sind nicht die einzigen, die sich während ihrer Persönlichkeitsentwicklung verloren fühlen und sich auch noch eine Weile verloren fühlen werden", meint Winstok. "Die Aufgabe von uns allen in der Gesellschaft ist es, diese verlorenen Jugendlichen rechtzeitig als solche ernstzunehmen, nicht zu ignorieren, sondern ihnen Optionen zu bieten, auf ihren eigenen Weg wieder zurückzufinden. Die Frage nach dem "Gipfel des Eisbergs" führt vor allem dazu, was denn überhaupt der "Eisberg" sein soll. Doch zunächst zum "Gipfel". Geht man von der Annahme aus, dass der "Eisberg" der Identifikation mit der Nazi-Ideologie entspricht, dann sage ich, es handelt sich nicht um den "Gipfel" jenes bezeichneten "Eisbergs". Ist mit dem "Eisberg" allerdings ein Bruch oder eine gewisse und umfassende Verlorenheit zwischen unserer Jugend und dem Staat gemeint, dann ist meine Antwort auf die Frage nach dem "Gipfel": Ja. Diese Entwicklung steht lediglich für einen "Gipfel", für einen oberflächlichen Ausschnitt der problematischen Situation unserer israelischen Gesellschaft."

Von daher gehe die in den letzten Wochen in Israel geführte Debatte um Neo-Nazis im jüdischen Staat "wirklich alle Mitglieder unseres Staates an", so Winstok weiter. "Natürlich ist der "moralische" Abstand zwischen überzeugten "Neo-Nazis" und solchen hilflosen Jugendlichen nicht immer groß. Es handelt sich eben um zwei Phänomene: Nazitum und verwahrloste, heranwachsende Jugendliche. Doch beide sozialen Phänomene, die in diese Problematik hineinspielen, beinhalten einen gemeinsamen Aspekt: den Verlust von Verbundenheit mit dem Staat oder eine Abspaltung. Wie bei jedem sozialen Problem - und zwar längst bevor diese vermeintlichen "Fakten" kolportiert wurden, dass es jetzt überall in Israel versteckte junge "Neo-Nazis" gäbe - werden diejenigen von uns mit fundiertem Wissen und fester, verantwortungsbewusster Persönlichlichkeit sich nicht von den "Fakten" verunsichern lassen, sondern unverzüglich nach einem Ausweg oder nach einer Lösung des Problems forschen. Diese Menschen und offizielle Verantwortungsträger sind jetzt gefragt, auch das Einwanderungsgesetz zu verbessern".

Man müsse sich auch fragen, ergänzt Winstok, weshalb in den vergangenen Jahren so viele Jugendliche eine gesellschaftliche Orientierung verloren haben. "Könnte dies darauf zurückzuführen sein, dass sich der Staat vor der Verantwortung für seine Bürger drückt?", fragt Winstok. "Wir haben seit einigen Jahren keine angemessenen Sicherheits-, Gesundheits- und Ausbildungsmaßnahmen entwickelt. Was uns vielmehr herumtreibt, ist die Illusion, dass es der Staat wäre, der für uns arbeitet. Eine Comedy-Gruppe fand dafür einmal den Begriff "Israbluff". Der Diskurs über das "Neo-Nazi"-Thema in Israel entspringt einem grundsätzlichen Irrglauben von "absoluter" Moralität. Und eben dieser Irrglaube steht in direktem Zusammenhang mit der Illusion, der Staat hätte heutzutage noch moralische Grundsätze für sich allein gepachtet, als würde der Staat für keinerlei Kompromisse stehen."

Es gebe keinen heiligen, moralisch integeren Staat mehr. Da mache auch Israel keine Ausnahme, so Winstok. "Wir sollten vielmehr endlich aufwachen, um die existenziellen Probleme, mit denen wir alle tagtäglich konfrontiert sind, grundlegend zu verbessern." Damit meint Winstok, überhaupt mehr auf die verbreitete und gesellschaftlich salonfähig gemachte Gewalt zu achten, sie zurückzudrängen. Winstock macht die überbordende Gewalttätigkeit in einem sehr weit gefassten Maß dafür verantwortlich, dass ein Phänomen wie "Neo-Nazis" in Israel ans gesellschaftliche Tageslicht geriet. Es gehe um "die Gewalt des Staates, die die Bürger erreicht und sich dort auswirkt und von daher Bürger gegen Bürger gewalttätig sein lässt, sei es verbal, physisch oder sexuell."

Zeev Winstok fordert einen verbesserten Umgang mit Gewalttätigkeit in der israelischen Gesellschaft. Im Oktober organisiert die "Aminut Association" - was soviel wie Glaubwürdigkeits-Vereinigung bedeutet - die erste nationale Konferenz in Haifa. Die "Aminut Association" beschäftigt sich mit Themen wie Gewalt in Familie und Gesellschaft sowie mit Vergewaltigung und bietet professionelle Dienste auf den Gebieten Wohlfahrt und Gesundheit, Recht und Forschung.

"Jüdische Zeitung", Oktober 2007

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