"Ich sehe besser aus als Israel"

Der Schriftsteller Meir Shalev über sinnstiftende Zoo-Besuche, den Dalai Lama in Jerusalem und die Last, als israelischer Autor immer politisch sein zu müssen.

Herr Shalev, wann waren Sie zuletzt in einem Zoo?

Das ist schon ein paar Monate her, da habe ich mit meinem zweieinhalb Jahre alten Neffen den Zoo in Jerusalem besucht.

Sie haben mal erzählt, im Zoo von Jerusalem hätte man ein Lamm und einen Wolf in einem Gehege gehalten. War das Dichtung oder Wahrheit?

Nein, nein, das gab es vor 30 Jahren tatsächlich. Das hatte sich der erste Direktor des Jerusalemer Zoos ausgedacht. Seine Idee war es auch, nur Tiere, die in der jüdischen Bibel erwähnt wurden, aufzunehmen. Also brachte er einen Wolf und ein Lamm zusammen, wie es in der Bibel geschrieben steht. Es hat, wie man sich denken kann, nicht funktioniert: Sie mussten jeden Morgen ein neues Lamm in den Käfig zu dem Wolf bringen.

Ein ziemlicher Verschleiß.

Sie sagen es. Dann hat der Direktor es noch variiert und einen ganz jungen, etwa acht Monate alten Wolf genommen und ihn mit einem wirklich großen Lamm zusammengesteckt. Dieses Lamm war allerdings ziemlich aggressiv und hat die ganze Zeit nach dem armen Wolf getreten. Am Abend musste der Wolf medizinisch behandelt werden. Sie haben dann mit diesem Unsinn aufgehört.

Sie besuchen immer einen Zoo, wenn Sie in eine neue Stadt kommen. Was fasziniert Sie daran?

In einem Zoo erfährt man immer sehr viel über eine Stadt und ihre Menschen. Dazu muss ich mir nur ansehen, wie die Tiere im Zoo behandelt werden. Der Zoo von Emmen in Holland beispielsweise ist vorbildlich, dort werden die Tiere sehr gut behandelt. Der Zoo in Peking dagegen ist einfach nur schrecklich. Die Gehege und Käfige sind viel zu klein, außerdem werfen die Besucher mit allen möglichen Dingen nach den Tieren.

Haben Sie einen Lieblingszoo?

Das ist ganz klar der Zoo in Kairo. Das ist nicht nur ein Tiergarten, sondern auch ein Park für Menschen. Kairo ist eine Riesen-Metropole, in der es nur wenig Grünanlagen gibt. Da der Zoo-Eintritt sehr günstig ist, kommen am Wochenende viele Familien dorthin, sie kochen dort ihr Essen, spielen Ball, tanzen und lachen. Manchmal ist es so voll, dass die Leute sogar in die Gehege der Tiere ausweichen.

Picknick mit Raubtieren?

Nein, das wäre nicht wirklich zu empfehlen.

Waren Sie je im palästinensischen Zoo Kalkilja in der Westbank?

Nein. Kalkilja ist leider weder für Menschen noch für Tiere ein guter Ort zum Leben.

Die Giraffe Brownie ist in diesem Zoo bei einer Militärrazzia ums Leben gekommen ...

Ich habe davon in der Zeitung gelesen.

Bis vor kurzem war die ausgestopfte Giraffe auf der Documenta in Kassel zu sehen. Brownie wurde nicht nur zum Maskottchen der Kunst-Ausstellung, sondern auch zu einem Friedenssymbol, das die Leute mehr als mancher Leitartikel zum Nachdenken über den israelisch-palästinensischen Konflikt brachte.

Interessante Geschichte. Ich hatte nicht gewusst, dass die arme Giraffe ausgestopft worden ist.

Es gibt eine Parallele zwischen Brownie und Ihrem neuen Buch "Der Junge und die Taube" , in dem eine Taube, auch so ein tierisches Symbol des Friedens, am Ende getötet und ausgestopft wird.

Das stimmt zwar, aber abgesehen von diesem bedauerlichen Ende haben meine Taube und die Giraffe wenig gemeinsam.

In Ihrem Buch schickt ein junger israelischer Soldat im Unabhängigkeitskrieg eine Brieftaube zu seiner Freundin - mit einer ungewöhnlichen Liebesbotschaft. Kurz vor seinem Tod hat er sich noch etwas Sperma abgetrotzt, das er der Geliebten per Taube schickt. Eine ungewöhnliche Umdeutung des Friedensvogels.

Ich hatte beim Schreiben zunächst Angst vor dieser symbolischen Erhöhung der Taube als Friedenssymbol. Denn ich wollte den Vogel nicht darauf reduzieren. Wobei mir natürlich klar war, dass die meisten das Tier so sehen würden.

Aber Sie selbst spielen doch auch damit.

Sicher, aber ich reduziere das Tier nicht auf diese Rolle. Ich habe die Taube schlicht deshalb ausgewählt, weil sie früher in der Armee tatsächlich als Bote benutzt wurde. Ich wollte über einen Vogel schreiben, der in Zeiten des Krieges Botschaften zwischen zwei Liebenden übermittelt.

Sie haben oft gesagt, dass Sie Romanen misstrauen, die zu sehr von der Politik beeinflusst sind. Aber Ihr neuer Roman ist mehr als Ihre vorherigen Bücher von politischen Ereignissen - der Unabhängigkeitskrieg ist nur eines davon - durchdrungen. Was hat Sie dazu gebracht, Ihr Credo zu ändern?

Gar nichts. Die politische Situation Israels war immer in all meinen Büchern spürbar. Deswegen gibt es in all meinen Romanen Menschen, die in den Krieg ziehen, die getötet oder verwundet werden. Das hat natürlich damit zu tun, dass ich selbst 1967 im Krieg verwundet wurde. Nur ist dies nicht das zentrale Thema meines neuen Romans. Der Krieg, der politische Konflikt ist nur Teil des Handlungshintergrunds. Aber den kann man nicht leugnen, wenn man in Israel lebt. Ansonsten bleibt es dabei: Ich schreibe keine politischen Romane und ich lese sie auch nicht gerne.

Warum nicht?

Weil ich manchmal das Gefühl habe, dass sich der Autor der Politik nur bedient, um seiner Literatur mehr Bedeutung zu verleihen.

Wir haben über solche Deutungs-Dilemmata auch mit Ihrem israelischen Kollegen Etgar Keret gesprochen. Er erzählte uns, seine Art, mit der Atmosphäre der Bedrohung umzugehen, sei es, Liebesgeschichten in Kriegszeiten zu schreiben. Geschichten wie die von einem Mann, der eine schöne Frau liebt, die sich über Nacht in einen haarigen männlichen Zwerg verwandelt.

Ist das nicht wunderbar? Das macht ihm keiner nach. Ich kenne diese Geschichte und Etgar sehr gut. Aber selbst seine Art, zu schreiben, hat mit der politischen Situation in Israel zu tun. In gewisser Weise ist der Krieg Teil eines jeden Romans, der in Israel geschrieben wird - sei es ganz offen oder nur als Teil des Hintergrunds.

Ist es ein Problem für Sie, dass Romane aus Israel unabhängig von ihrem Inhalt in Europa politisch interpretiert werden?

Manchmal geht mir das schon auf die Nerven. Oft scheint es völlig egal zu sein, was man schreibt. Selbst wenn ein israelischer Autor eine Kindergeschichte verfasst, werden ihm in Europa von Journalisten und Besuchern seiner Lesungen politische Fragen gestellt, die nichts mit seinem Buch zu tun haben. In gewisser Weise muss ich das akzeptieren, weil ich eben aus dem Nahen Osten komme, und es die Leute interessiert, wie ich über die ganze Situation denke. Aber manchmal ist es einfach ein bisschen zu viel. Das ist in Israel übrigens nicht anders. Es gibt hier Kritiker, die sich sagen: Wir werden ein Buch, selbst wenn es ganz offensichtlich nicht politisch ist, trotzdem politisch interpretieren.

Was ist das größte Missverständnis der Europäer im Hinblick auf den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis?

Zuallererst vermischen manche Leute die verschiedenen Kriege, die wir hier hatten - wofür ich sie nicht tadeln will, weil es tatsächlich eben viele Kriege im Nahen Osten gab und gibt. Aber die Leute verstehen nicht, dass es bedeutende Unterschiede zwischen den Kriegen gibt. Der Krieg von 1948 hatte mit der Gründung Israels zu tun und damit, dass sich die Araber und Palästinenser weigerten, den Plan der Vereinten Nationen anzunehmen, und stattdessen Israel den Krieg erklärten. Ihre Niederlage in diesem Krieg ist die Ursache für das schlimme Problem der palästinensischen Flüchtlinge. Beim Krieg von 1967 haben wir dann die Golanhöhen, das Westjordanland, die Sinaihalbinsel und die Westbank besetzt. Dieser Krieg ist für mich eine der maßgeblichen Ursachen für die meisten Probleme, die wir heute haben. Und dann gab es noch die Zeit, in der sich Israel idiotisch verhalten hat: Wir erlaubten Siedlern, sich in den besetzten Gebieten niederzulassen. Das alles nicht zu unterscheiden, ist ein Fehler. Und dann merke ich immer wieder, dass sich viele Leute in Europa wünschen, Israelis und Palästinenser mögen sich doch umarmen und Bruderküsse geben. Aber das ist nicht realistisch.

Was ist realistisch?

Dass wir versuchen können, wie friedliche Nachbarn zusammen zu leben. Vielleicht wird es in einigen Jahren, wenn die Erinnerungen schon etwas verblasst sind, möglich sein, dass wir Freunde werden.

Sie haben einmal vorgeschlagen, der Dalai Lama solle die Aufsicht über die heiligen Stätten Jerusalems übernehmen. War das Ihr Ernst?

Ja. Ich habe den Dalai Lama einmal in Jerusalem getroffen. Ich fragte ihn, wie er sich in einer Stadt fühlte, die für so viele Menschen auf der Welt so wichtig und heilig ist und trotzdem aus religiösen Gründen so viele Probleme hat. Der Dalai Lama sagte mir, dass der Buddhismus, anders als Islam, Judentum und Christentum, eine unpolitische Religion sei. Der Konflikt um Jerusalem sei für ihn daher ein sehr seltsames Phänomen. Er sagte mir weiter, dass der Buddhismus niemals ein Monopol auf Tugend und Moral beansprucht habe. Der Buddhismus glaube vielmehr, dass alle religiösen und nichtreligiösen Menschen sowohl gut als auch schlecht sein könnten. Das ist eine sehr erfrischende Denkart. So kam ich zu der Einsicht, dass eigentlich keine Religion verantwortungsvoll genug ist, um mit der Jerusalem-Frage vernünftig umzugehen. Vielleicht sollte also Jerusalem unter die Aufsicht des Dalai Lama gestellt werden, der sich für uns um die Stadt kümmern könnte. Das würde zumindest dazu führen, dass niemand mehr Jerusalem für sich reklamieren kann.

Welche Reaktionen gab es auf Ihren Vorschlag?

Als ich das sagte, wusste ich natürlich: Das ist nicht durchzuführen. Mir war auch klar, dass niemand aufstehen und sagen würde: "Tolle Idee!" Aber trotzdem fühle ich mich verpflichtet, hin und wieder ungewöhnliche Gedanken wie diesen zu formulieren, weil Jerusalem der Kern des Problems im Nahen Osten ist.

Kürzlich haben israelische Minister aus unterschiedlichen Lagern am nationalen Tabu gerüttelt und von Konzessionen in der Jerusalem-Frage gesprochen, womit die Teilung Jerusalems, also die doppelte Hauptstadt, gemeint war.

Man muss abwarten, was sich daraus entwickelt. Sehen Sie, für uns Juden war Jerusalem lange Zeit eine Art Traum. Aber man sollte nicht danach streben, Jerusalem zu besitzen, sondern die Idee Jerusalems im Herzen zu tragen. Es geht nicht darum, den Tempelberg zu besitzen, um näher an Gott zu sein. Das ist eine gefährliche Art zu denken. Wir haben über 2000 Jahre lang gesagt: Jerusalem ist der Traum des jüdischen Volkes. Tatsächlich haben wir länger von Jerusalem geträumt, als wir es je besessen haben. Wir sollten die Idee aufgeben, dass wir Jerusalem besitzen müssen. Wir sollten Jerusalem vielmehr als moralische und spirituelle Quelle sehen.

In einer Rede haben Sie kürzlich den Premier Ehud Olmert scharf kritisiert und ihm öffentlich ausgerichtet, er sei gefeuert, weil er weder in der Lage sei, Krieg zu führen, noch Frieden zu schaffen. Das passt gar nicht zu den sonst eher subtilen Tönen, die wir aus Ihren Kommentaren für israelische Tageszeitungen kennen. Was macht Sie so wütend?

Ich bin nicht wütend, ich bin enttäuscht und besorgt. Herr Olmert hat weder die Fähigkeiten noch die nötige Vision, um Premierminister Israels zu sein. Es war ein riesengroßer Fehler, vor einem Jahr diesen Krieg im Südlibanon zu führen. Er hat ihn auf die falsche Weise geführt, und er hat Israel großen Schaden zugefügt. Wir brauchen jemanden, der eine längerfristige Vision für Israel hat und danach handelt.

Sie selbst haben Außenministerin Zip Livni als Staatschefin ins Spiel gebracht.

Ja, unter unseren derzeitigen Führungsfiguren ist sie die beste. Abgesehen davon würde ich auch gerne eine Frau an der Spitze Israels sehen, weil ich diese Testosteron-strotzende Männer-Riege in unserer Regierung gründlich leid bin.

Warum gehen Sie nicht selbst in die Politik?

Mir wurde das mehrere Male angeboten. Aber jeder muss seine Stärken und seine Schwächen kennen. Ich bin nicht besonders gut darin, mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten. Deshalb bin ich Schriftsteller geworden. Ich muss keine Kompromisse schließen. So gesehen würde ich vielleicht einen großartigen Diktator abgeben, aber nicht den Premierminister eines demokratischen Landes.

Herr Shalev, Sie sind so alt wie der Staat Israel, im kommenden Jahr werden Sie beide 60 Jahre alt. Was wünschen Sie sich an Ihrem Geburtstag für sich selbst und Israel?

Wir haben beide zwar das gleiche Alter, aber ich sehe besser aus als der Staat Israel. Ich wünsche mir, dass der Staat Israel länger leben wird, als ich das tun werde, und ich hoffe, dass Israel mutig und stark genug sein wird, um zu erkennen, was es eigentlich werden möchte.

Interview: FLORIAN BRÜCKNER UND MARTIN SCHOLZ

Frankfurter Rundschau, 10.10.2007

Zur Person

Meir Shalev, geboren 1948 im Gründungsjahr des Staates Israel in einem der ersten zionistischen Genossenschaftsdörfer, wurde in Israel zunächst als Kolumnist und Moderator einer Talkshow berühmt. Mit 38 Jahren begann er Bücher zu schreiben - zunächst für Kinder. "Luzie, die Laus" und "Papa nervt" etwa waren in Deutschland erfolgreich. Einem größeren Publikum ist er durch seine Romane "Judiths Liebe" und "Esaus Kuss" bekannt geworden. Sein aktueller Roman heißt "Der Junge und die Taube" (Diogenes).

Als junger Soldat wurde Shalev im Sechstagekrieg verwundet. Heute ist er ein scharfer Kritiker der israelischen Besatzung im Westjordanland. Nach dem Libanonkrieg 2006 hielt er auf einer Großdemonstration eine Rede, in der er den Rücktritt des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert forderte. In seiner wöchentlichen Kolumne, die in der Tageszeitung Jedi'ot Acharonot erscheint, setzt er sich satirisch mit der Lage in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten auseinander.

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