Israel und die Völker
Apostelgeschichte 16,9-15, Predigttext am 27. Januar 2008
von Wolfgang Stegemann
9 Nachts hatte Paulus eine Vision: Ein Mann aus Mazedonien
stand da und bat ihn: "Setze über nach Mazedonien und hilf uns!"
10 Nach dieser Vision des Paulus bemühten wir uns sofort darum, nach
Mazedonien zu kommen. Es war uns nämlich klar geworden, dass Gott
uns herbeigerufen hatte, ihnen das Evangelium zu verkündigen. 11
Als wir aus Troas ausgelaufen waren, fuhren wir geradewegs nach Samothrake,
kamen am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von dort nach Philippi.
Das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische
Kolonie. In dieser Stadt verbrachten wir einige Tage. 13 Am Sabbat gingen
wir hinaus vor das Tor an einen Fluss, wo wir eine Synagoge vermuteten.
Wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die sich dort versammelt hatten.
14 Auch eine Frau namens Lydia, die Israels Gott ehrte, eine Purpurwollenhändlerin
aus der Stadt Thyatira, hörte zu. Ihr öffnete der Herr das Herz,
so dass sie in sich aufnahm, was Paulus sagte. 15 Als sie getauft worden
war - und auch die Menschen in ihrem Haus -, bat sie uns: "Wenn ihr
davon überzeugt seid, dass ich mein Vertrauen auf den Herrn, auf
Jesus, setze, dann kommt in mein Haus und wohnt dort!" Und sie drängte
uns sehr dazu.
(Übersetzung: Klaus Wengst, Bibel in gerechter
Sprache)
Ich stelle in den Mittelpunkt meiner Auslegung einen Aspekt
der Geschichte, der mir im Rahmen der Apostelgeschichte - des frühesten
Christentums insgesamt - von grundsätzlicher Bedeutung zu sein scheint.
Die Erzählung von der Purpurhändlerin Lydia ist - so verstehe
ich den Text - eine Geschichte, in der die Gemeinschaft der Christusglaubenden
sich ihre völkerüberschreitende Zusammensetzung erklärt
und sich der theologischen Legitimität ihrer Überschreitung
der ethnischen Grenzen des Volkes Israel vergewissert. Die Erzählung
führt diese Überschreitung auf eine himmlische Intervention
zurück und steht in der Apostelgeschichte in einem Zusammenhang mit
vergleichbaren Geschichten. Ich werde diesen Aspekt gleich etwas näher
beleuchten, schicke allerdings einige kommentierende Bemerkungen zu dem
zitierten Text voraus.
Sozialgeschichtliche Einzelheiten
An dieser Stelle der Apostelgeschichte findet sich erstmals
ein so genannter "Wir-Bericht", d. h., die Erzählung vermittelt
den Eindruck, dass der Autor des Buches (wir kennen seinen Namen nicht,
nennen ihn darum der Einfachheit halber mit dem in der Tradition geläufigen
Namen "Lukas") Paulus und Silas begleitet hat und jetzt aus
eigener Erfahrung berichtet. Das kann stilistische Nachahmung sein - muss
es aber nicht. Wir wissen es schlicht nicht. Überhaupt fehlt uns
die Möglichkeit, gültig zu entscheiden, ob es sich um einen
historischen Bericht oder eine fiktive Erzählung handelt. Pround
Contra-Argumente spare ich mir hier; wichtiger scheint mir die Beantwortung
der Frage, ob wir grundsätzlich damit rechnen dürfen, dass Lukas
eine seinen zeitgenössischen Leserinnen und Lesern plausibel erscheinende
Geschichte erzählt. Diese Frage würde ich mit ja beantworten.
Auffällig ist das - jedenfalls kommt es mir und anderen
bei der Lektüre des Textes so vor - "konspirative" Milieu
der Erzählung. Die Apostel "vermuten" eine Gebetsstätte
(proseuche; das Wort kann eine Synagoge meinen, aber auch eine jüdische
Gebetsstätte unter freiem Himmel) außerhalb des Stadttores.
Eine jüdische Gebetsstätte unter freiem Himmel - wie ich deuten
würde - wäre prinzipiell nichts Ungewöhnliches. Zumal nicht
in einer kleinen Stadt wie Philippi, die als römische Kolonie (als
Stadtgründung der Römer nach dem Vorbild Roms selbst, eine Art
Klein-Rom in Griechenland) mit ihren dort vorwiegend angesiedelten Veteranen
zu einem größeren römischen Ethnozentrismus geneigt haben
mag als Rom selbst.
Die Protagonisten Paulus und Silas finden an der Gebetsstätte
offenbar allein Frauen versammelt, unter denen Lydia als "Gottesfürchtige"
geschildert wird, mithin als Nicht-Jüdin, die religiöse bzw.
kulturelle jüdische Praktiken ausübt. Sie stammt aus Thyatira
(im Westen der heutigen Türkei gelegen) und ist damit wohl ihrer
ethnischen Herkunft nach Lyderin. Die übrigen versammelten Frauen
könnten zum Haus bzw. Handelsbetrieb der Lydia gehören. Lydia
handelt wahrscheinlich mit purpurfarbenen Textilien, die in ihrer Heimatstadt
hergestellt sein mögen. Römische Bürger durften ihre Toga
mit Purpurstreifen besetzen (mehr oder weniger breit, ganz nach Status),
manche (der Kaiser und Senatoren, auch andere Würdenträger)
ganze purpurfarbene Togen tragen (gegenwärtig ein Privileg der Kardinäle!).
Purpurfarbene Textilien waren so etwas wie eine Luxusware. Mit dem Handel
konnte gutes Geld verdient werden, doch größeren gesellschaftlichen
Einfluss oder hohes Ansehen besaß Lydia aufgrund ihrer wirtschaftlichen
Situation wohl kaum. Sie war und blieb eine "Fremde" in der
römischen Stadt Philippi!
Die Apostel setzen sich zu ihnen und reden, worunter wir
uns wohl die typische Haltung von Lehrenden vorzustellen haben; d. h.,
sie machen es sich nicht nur bequem (vgl. zum Gestus nur noch Matthäus
5,1: der Bergprediger setzt sich und lehrt das Volk)! Erwähnens-
und bemerkenswert, da es sich um die Lehre vor Frauen handelt, bekanntlich
keine Selbstverständlichkeit, wie wir auch aus verschiedenen neutestamentlichen
Texten wissen. Warum sind allein Frauen dort versammelt? Vielleicht, weil
es keine Jüdinnen und Juden in dieser römischen Stadt gab, sondern
nur "Gottesfürchtige", die in den allermeisten Fällen
Frauen waren. Auch darüber können wir allerdings nur spekulieren.
Der Herr öffnet Lydia das Herz; das Herz ist für
die antiken Menschen der Sitz des Verstandes und des Gedächtnisses,
nicht der Sitz der Emotionen, deren körperlicher Ort die Eingeweide
sind. Lydia repräsentiert also nicht besondere Emotionalität,
sondern Verständnis und Verstand. Dass schließlich Lydia die
Apostel drängen muss, bei ihr als Gäste zu wohnen, mag schlicht
damit zusammenhängen, dass diese Lydia nicht öffentlich ins
Gerede bringen oder gar gefährden wollten, weil sie Juden beherbergt.
Dafür spricht, dass die jüdische Identität - wie wir später
aus der Geschichte lernen - in dieser Stadt etwas Außergewöhnliches
und Gefährliches zu sein scheint (16,16 ff.). Ist Philippi eine Art
antike no go-area für Jüdinnen und Juden? Ich halte diese Interpretation
jedenfalls für historisch plausibel.
Eine himmlische Intervention
Doch nun zum angekündigten Thema: In einem nächtlichen
Gesicht, wohl einer Traumvision, sieht Paulus einen Mazedonier, der ihn
um Hilfe bittet. Diese Erfahrung wird hier explizit als Offenbarung eines
göttlichen Auftrags gedeutet, obwohl diese Interpretation für
antike Leserinnen und Leser aufgrund ihres kulturellen Wissens ohnehin
nahe gelegen hätte. Sie ist also der Erzählung sehr wichtig.
Gerade in der Apostelgeschichte sind im Übrigen Offenbarungen himmlischen
Wissens in "Gesichten" nicht selten anzutreffen (vgl. nur 7,31;
9,10.12; 10,3.17.19; 11,5; 12,9; 18,9). Überhaupt wird die Ausbreitung
des Evangeliums nach Darstellung der Apostelgeschichte des öfteren
durch ein himmlisches "Management" - Gott, Christus oder der
Heilige Geist - gesteuert. Zu diesem Zwecke kann auch hemmend eingeschritten
werden, wie wir kurz vorher lesen können: Paulus und seine Begleiter
werden daran gehindert, in der Provinz Asia bzw. in Bithynien (im Norden
der heutigen Türkei gelegen) zu predigen (16,6 f.). Im hier zur Debatte
stehenden Fall handelt es sich um eine positive himmlische Intervention.
Doch warum ist sie nötig und sinnvoll? Ich versuche auf diese Frage
eine Antwort, indem ich unseren Text mit zwei weiteren Texten vergleiche.
Mir scheint: Die Erzählung von der Gewinnung Lydias für den
Christusglauben bzw. von ihrer Taufe ist insbesondere zwei weiteren Erzählungen
der Apostelgeschichte vergleichbar, in denen jeweils exemplarisch eine
Art ethnische "Grenzüberschreitung" durch himmlische Intervention
"legitimiert" wird.
Zwei Parallelgeschichten
In Apostelgeschichte 8 wird ein Afrikaner, ein Eunuch
aus Äthiopien, für den Christusglauben gewonnen und getauft.
Er kommt also nicht nur zum Glauben an Christus, sondern er bittet auch
um die Taufe. Mit der Taufe wird er zum Mitglied der Gemeinschaft der
Christusglaubenden, ist mithin nicht nur Sympathisant. Der Äthiopier,
eine Art Finanzminister der Königin, war zuvor Sympathisant der jüdischen
Gottesverehrung (ein so genannter "Gottesfürchtiger"),
konnte aber wohl nicht ohne Verlust seiner gesellschaftlichen Stellung
(und vielleicht auch wegen seiner "Verschnittenheit") Mitglied
des Volkes Israel werden.
In Apostelgeschichte 10 f. wird ein römischer Offizier
durch den Apostel Petrus getauft. Auch Kornelius wird als "Gottesfürchtiger"
beschrieben, der sich nicht nur durch seine Sympathie für die jüdische
Gottesverehrung, sondern auch für das jüdische Volk auszeichnet
(10,2). Auch Kornelius hätte kaum Mitglied des Volkes Israel werden
und römischer Offizier bleiben können.
Bemerkenswert ist an beiden Erzählungen also, dass
Menschen getauft und damit Mitglieder der christlichen Gemeinschaft werden,
aber sozial bzw. gesellschaftlich bleiben können, was sie sind. Das
wäre bei ihrem Beitritt zum jüdischen Volk als Konsequenz aus
ihrer Verehrung des Gottes Israels bzw. ihrer Sympathie für das jüdische
Volk kaum möglich gewesen. Vergleichbares gilt nun auch für
Lydia. Sie ist ebenfalls eine "Gottesfürchtige", eine Nicht-Jüdin,
die den Gott Israels verehrt und (in welchem Umfange auch immer) bestimmte
kulturelle bzw. religiöse Praktiken des jüdischen Volkes ausübt
(z. B. sich am Sabbat mit anderen zum Gebet versammelt). Auch in ihrem
Falle scheint ihre soziale Stellung und verbunden damit vermutlich auch
ihr spezieller Wohnort (Philippi als römische Kolonie!) sie daran
zu hindern, dem jüdischen Volk beizutreten. Denn als Abnehmer von
purpurgefärbten Stoffen kamen insbesondere Römer infrage (grundsätzlich
alle Schichten, insbesondere aber auch die Elite), für die - wie
die negativen Erfahrungen von Paulus und Silas in Philippi demonstrieren
(Apg 16,16 ff.) - Lydias mögliche Hinwendung zum Judentum durchaus
ein Grund gewesen sein könnte, mit ihr keine Geschäfte mehr
zu machen.
Die Aufnahme von "Heiden" in die christusglaubende
Gemeinschaft
Es gibt also in allen drei Fällen einsichtige Gründe
für die "Gottesfürchtigen", ihren Sympathisantenstatus
beizubehalten und den Übertritt zum Judentum qua Volk nicht zu vollziehen.
Und es sind vor allem Hinderungsgründe, die mit Grenzziehungen und
Vorurteilen der nicht-jüdischen Gesellschaft gegenüber dem jüdischen
Volk zusammenhängen, nicht mit Grenzziehungen des jüdischen
Volkes selbst. Das ist eindeutig so im Falle von Kornelius und Lydia,
für die es von Seiten des Judentums keinerlei besondere Hinderungsgründe
für ihre Aufnahme im jüdischen Volk gegeben hätte. Dies
gilt m. E. aber auch für den Äthiopier, dessen "Verschnittenheit"
aus jüdischer Sicht ein Hindernis sein konnte, nicht aber zwangsläufig
und definitiv sein musste. Kurz: Die jeweilige göttliche Intervention
legitimiert hier nicht eine Aufnahme von "Gottesfürchtigen"
in die christliche Gemeinschaft, die nicht die Möglichkeit gehabt
hätten, Mitglieder des jüdischen Volkes zu werden. Auch wenn
besonders die Petrusvision (ihm erscheinen ja in einem vom Himmel herabgelassenen
Tuch unreine Tiere, die er essen sollte, aber nicht essen wollte, weil
sie ihm als Juden zu essen verboten waren: 10,9 ff.) eine solche Deutung
nahe legen könnte. D. h., das Problem der Aufhebung ethnischer Grenzen
ist nicht aus jüdischen Regelungen bezüglich des Hinzukommens
von Mitgliedern aus anderen Völkern zum Volk Israel zu erklären!
Erklärungsbedürftig scheint vielmehr innerhalb der christusglaubenden
Gemeinschaft die Teilhabe von Angehörigen der anderen Völker
(der so genannten "Heiden") am Heil Israels ohne Zugehörigkeit
zum Volk Israel.
In allen drei erwähnten Fällen legitimiert die
göttliche Intervention die Aufnahme von Angehörigen nicht-jüdischer
Völker in die Gruppe der Christusglaubenden, was theologisch genauer
heißt: Ihre Aufnahme in die Gruppe derer, die für sich davon
ausgehen, dass sie am durch Christus vermittelten endzeitlichen Heil Israels
teilnehmen werden, kurz: zur Gruppe derer gehören, die gerettet werden.
Es wird hier also erzählt, dass die Teilhabe von Menschen aus anderen
Völkern am Heil Israels durch göttliche Intervention ausgelöst
und damit auch bestätigt wird, was auf dem Jerusalemer Apostelkonvent
beschlossen worden ist.: Niemand muss Mitglied des jüdischen Volkes
werden, um Anteil am - durch Christi Auferstehung als Erfüllung der
Hoffnungen Israels vermittelten - Heil Israels zu bekommen. Mann muss
sich nicht erst nach der Sitte des Mose beschneiden lassen, um "gerettet"
zu werden, wie einige unter den (jüdischen) Christusglaubenden meinen
(15,1). Vielmehr (positiv formuliert) gewährt Gott Menschen aus allen
Völkern die Umkehr zum Leben (11,18).
Außenseiter und Aufsteiger
Der Aufwand an himmlischer Intervention wird also getrieben,
so meine Deutung, weil die christusglaubende Gemeinschaft darin eine Bestätigung
bzw. Legitimierung der Aufnahme von Heiden ins Heil Israels sehen kann.
So interessant dieser theologische Gedanke ist, so interessant scheint
mir aber auch für die Sozialgeschichte des frühesten Christentums,
welche Persönlichkeiten in der Apostelgeschichte als exemplarische
Beispiele der Aufnahme von Nicht-Juden in die Heilsgemeinschaft der Christusglaubenden
benannt werden: In allen Fällen sind es Sympathisant/innen der jüdischen
Kultur/ Religion und des jüdischen Volks, also Menschen, die sich
im symbolischen Universum und auch in der sozialen Welt des damaligen
Judentums bewegen. Zugleich aber handelt es sich um Menschen, die nicht
zum etablierten Kern der damaligen Gesellschaften gehören, sondern
irgendwie "anders" sind, Außenseiter. Doch diese Außenseiter
sind auch irgendwie Aufsteiger. Klar ist dieses doppelte Merkmal beim
Eunuchen wie beim Hauptmann. Kornelius gehört zu einer der ganz seltenen
"Aufsteiger"-Gruppen der antiken Gesellschaft, bleibt allerdings
aus der Sicht der Etablierten eben auch als Aufsteiger ein Außenseiter.
Schließlich trifft dieses doppelte Merkmal auch auf Lydia zu. Sie
ist eine Frau der Unterschicht, die es - als Frau, was doppelt so schwer
war - offenkundig zu etwas gebracht hat und - wenn mir der Ausdruck erlaubt
wird - auch Mumm hat. Doch auch sie ist letztlich eine "Fremde"
im römischen Philippi geblieben.
Junge Kirche 4/2007
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