Die Rede von Schuld und Vergebung als Täterschutz
von Katharina von Kellenbach
(gewidmet Nathan Cohn Magnus)
Die Rede von Schuld und Vergebung ist, zumindest im protestantischen
Kontext, stark von der evangelischen Rechtfertigungslehre geprägt.
Es wird in diesem Beitrag also zunächst das evangelische Verständnis
der Sündenvergebung am Beispiel des systematischen Theologen Jürgen
Moltmann kurz umrissen werden. Moltmann hat sich speziell für das
Problem der "Befreiung der Unterdrücker" interessiert und
formuliert wie die Gerechtigkeit Gottes auch die Täter von Unrecht
ergreifen kann. Der zweite Teil wird anhand einer ausführlichen Analyse
eines Briefes, der von einem theologisch vorgebildeten NS-Täter in
den sechziger Jahren geschrieben wurde, fragen, wie sich die Rechtfertigungslehre
konkret im Leben eines Mannes auswirkt. Zum Abschluss soll das Kainsmal
als alternatives Paradigma göttlicher Gnade im Leben schuldhaft belasteter
politischer Täter angedacht und an meiner autobiographischen Geschichte
beispielhaft beschrieben werden.
Jürgen Moltmann hat sich als Befreiungstheologe und
engagiertes Mitglied des jüdisch-christlichen Dialogs dem Problem
der "Befreiung der Unterdrücker" zugewandt. Er hegt dabei
keine Illusionen und ist sich der Macht der Selbstgerechtigkeit im Leben
eines Täters durchaus bewusst. Er sieht die
"Blindheit und Verblendung der Unterdrücker:
sie sehen die Leiden der Opfer nicht, die sie verursachen. Sie sind verblendet:
Sie rechtfertigen ihre Niedertracht mit vielen Gründen. Die Befreiung
der Unterdrücker ist darum eine, jeden guten Willen übersteigende
Erfahrung. Der Herr muß sterben, damit der Bruder geboren werden
kann." (527)
Für Moltmann gründet sich die Erlösung
eines Täters von der Schuld und damit seine Befreiung zur Menschlichkeit
in der Kreuzigung Christi. Seine Rechtfertigungslehre ist seiner Kreuzestheologie
verbunden: Christus stirbt für die Sünd' der Welt. Die gläubige
Annahme dieses Sühneopfers ermöglicht es dem Sünder sich
seiner Schuld bewusst zu werden. Die bedingungslose Liebe des Vaters geht
aktiv und unverdientermaßen auf den Täter zu und bietet ihm
die Sühneleistung des Sohnes, um ihn aus der sündhaften Verstrickung
zu erlösen. In der gläubigen Empfängnis der Sühne
Gottes erfährt der Täter die Befreiung von der Last der Schuld.
Moltmann bringt das prägnant auf die folgende Formel:
"Wie kommt also die Sühne zu den Tätern
von Unrecht und Gewalt? Sie kommt aus dem Erbarmen des Vaters, durch die
stellvertretend erlittene Gottverlassenheit des Sohnes und in der entlastenden
Kraft des Heiligen Geistes. Es ist eine einzige Bewegung der Liebe, die
aus dem Schmerz des Vaters entspringt, im Leiden des Sohnes offenbar und
im Geist des Lebens erfahren wird. So wird Gott zum Gott der Gottlosen.
Seine Gerechtigkeit rechtfertigt die Ungerechten."(151; Geist des
Lebens)
NS-Täter haben diese evangelische Botschaft gehört
und sie sich zu eigen gemacht. Aber konnte ihre religiöse Praxis
zur Umkehr führen? War es NS-Tätern, die zwar subjektiv bekannten,
"in das ewige Leben der göttlichen Liebe hinein" genommen
worden zu sein, tatsächlich möglich, ihre Verachtung gegenüber
ihren Opfern zu überwinden? Wie sieht denn "Umkehr", Metanoia,
Erlösung vom bösen Geist im Kontext des Nationalsozialismus
aus? Ist es realistisch zu erwarten, dass aus einem Saulus ein Paulus,
aus einem überzeugten Nazi ein neuer Mensch wird, welcher der nationalsozialistischen
Weltanschauung abschwören und die mörderische Verfolgung der
Opfer herzlich bereuen kann? Kann ein Mensch innerhalb eines Lebens eine
solch radikale Veränderung überhaupt leisten?
Ich wollte also ganz konkret und historisch genau wissen,
wie sich die evangelische Rechtfertigungslehre, wie sie von Moltmann systematisch-theologisch
auf den Punkt gebracht wurde, in den Interniertenlagern, den Militärgefängnissen
und Zuchthäusern auswirkte. Dafür suchte ich nach Täterdokumenten,
von denen ich zunächst annahm, sie seien schwer zu finden, weil über
den Täter ein Schleier des Schweigens und des Vergessens läge.
Dem war nicht so. Die Täter, die in meiner Arbeit eng definiert,
nur jene Männer und Frauen einschließt gegen die Anklage wegen
Tötungsverbrechen erhoben wurde, äußerten sich ausführlich
und umfangreich. Die Archive quellen über und ich habe insbesondere
die Dokumente der Täterseelsorge in Kirchenarchiven gesichtet und
die Briefe, Tagebücher, die Rückblicke von Tätern und Pfarrern,
sowie Predigten, Seelsorgehandreichungen und Kontakte zu Familienangehörigen
durchforstet, um eine Einsicht in die moralische, politische und spirituelle
Befindlichkeit von NS-Tätern zu bekommen. Natürlich unterliegen
Seelsorge und Beichtgespräche dem Siegel des Beichtgeheimnisses und
es wird immer schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, die "Reue"
eines Sünders oder Straftäters von außen nachzuvollziehen
oder empirisch zu messen.
Das folgende Dokument wird dennoch glaubhaft darstellen,
warum Moltmanns Kreuzestheologie und Rechtfertigungskonzeption in der
Begegnung mit dem Gottessohn zu kurz greift und keine Reue, Umkehr und
Schuldeinsicht bei staatlich legitimierten Gewalttätern auslösen
kann. Meine Kritik an der kirchlichen Praxis der "Schuld und Vergebung
als Täterschutz" beziehen sich ausschließlich auf staatlich
legitimierte Gewaltverbrechen und sollten nicht auf Gefängnisseelsorge
mit "normalen Kriminellen" übertragen werden. Viele der
NS-Täter meiner Studie waren gebildete Männer, Rechtsanwälte,
Theologen, Lehrer, Ärzte, die sich ausgiebig mit ihrer Vergangenheit
auseinandergesetzt haben. Es wird deutlich werden, dass die idealtypische
Sprache von Schuld und Sünde, wie sie unter Theologen (unter Philosophen)
üblich ist, von der Realität der NS-Täter abweicht. Wenn
man die Täter in ihrer eigenen Sprache zu Wort kommen lässt
und in ihrer Gedankenwelt ernst nimmt, dann bieten sich andere biblische
Modelle zu Schuld und Vergebung an. Es geht mir also darum, die Welt der
Täter zum Ausgangspunkt theologischer Reflektion über Schuld
und Vergebung zu machen und nicht ungekehrt, die dogmatische Lehre ihrer
Erfahrung überzustülpen.
In den Worten eines NS-Täters, den ich hinterher
biographisch vorstellen möchte, hört sich die evangelische Rechtfertigungslehre,
die Moltmann systematisch darstellte, so an:
"Wie wenig hat Jesus von Nazareth, der Göttliche,
der Menschensohn, der Weiseste seines Vaters-so weise, dass ihn alle Rabbiner
der Synagoge bis heute verstoßen und verdammt haben!-wie wenig hat
ER von der Sünde gesprochen! Wie selten hat er das Wort "peccatum"
im Munde gehabt! ER hat keine Lasterkataloge aufgestellt und nicht wie
unsere moderne Psychoanalyse in Schmutz und Schande der Vergangenheit
eines Lebens herumgewühlt und den Menschen Stinkkübel vor die
Nase gehalten, um sie auf diese Weise ihre bösen Irrtümer und
Fehler, ihre Sünden erkennen zu lassen!" (9-10)
Hier ist traditioneller theologischer Antijudaismus am
Werk, der den christlichen Gott der Liebe einem angeblichen Gott der Vergeltung
im Alten Testament gegenüber stellt. Der Autor setzt die unbedingte
Vergebungsbereitschaft des Neuen Testamentes gegen den als jüdisch
charakterisierten Rache- und Vergeltungsgeist. Sein Antijudaismus spricht
nicht nur durch die als feindlich beschriebenen Rabbiner, sondern schwingt
auch in seiner Ablehnung der Psychoanalyse mit, die ja bekanntlich vom
Juden Sigmund Freud erfunden wurde. Wer nicht bereit ist, die Sünden
der Vergangenheit ruhen zu lassen, wühlt in "Schmutz und Schande,"
und quält den armen Sünder mit ihrem Gestank, um ihn zu demütigen
und zu peinigen. Ganz im Unterschied dazu handelt Jesus, der dem Sünder:
"sein eines Herz, sein reines reumütiges Leben,
seinen Gottesgehorsam in Gerechtigkeit und Liebe entgegengestellt, seine
treue Bruderliebe entgegengebracht-sein Beispiel, sein Vorbild gegeben!
Da brauchte er nicht viel von Fehlern, von Sünde zu sprechen ...
Sie wurden denen, die ihn hörten und sahen, in seinem Gegenlicht,
erschreckend, beschämend und verwandelnd von selbst sichtbar! Da
leuchtete es jedem seiner Augenblicke: Vade, et iam amplius noli peccare!
Da verringerte sich der Abstand des menschlichen Herzens von Gott, nur
es erfasste das tiefste Verlangen das lebende Herz, von den Irrtümern,
von den falschen Urteilen schwacher Erkenntnis, von jämmerlichen
verderblichen Tun, von ihrem Vergehen, von ihren Sünden freizukommen,
befreit zu werden. Und sie glaubten seinem Wort und verzweifelten nicht,
sie glaubten nicht in Theorie, sondern in der Praxis! Und ihr Glaube hat
ihnen geholfen! Es geschehe ihnen, wie sie geglaubt hatten. Und so wurden
ihnen nicht durch eine Aufrechnung, sondern durch eine bessere Bilanzziehung
aus ihren Vergehen das Herz, der Sinn, das Leben gewandelt und der Weg
in den Himmel, in das Leben der Welt geöffnet". (Hervorh. kvk,
9-10)
Wie soll das gehen? Die Gutheit des Gottessohnes wirkt
also quasi ansteckend und reinigend. Der Glaube an sich verändert
und schafft Befreiung. Das Aufrechnen und die Bilanzziehung wird eher
dem jüdischen Geist zugerechnet, während im Christentum der
Glaube wie magisch ein "Freikommen" gewährleistet. Die
Stichworte "Befreiung" und "Freikommen" tauchen hier
auf, was einem Loskommen von der Bürde der Schuld und der Vergangenheit
gleichkommt. Ich denke, dass Arthur Wilke die Rechtfertigungslehre von
Jürgen Moltmann durchaus korrekt wiedergibt. Die geltende Parabel
für dieses Vergebungsverständnis ist das Gleichnis vom verlorenen
Sohn, das häufig in Täterdokumenten auftaucht und mit dem Wilke
seinen Absatz beendet:
"In der Liebe eines Vaters zu seinem Sohne geschieht
es, dass der Vater dem Jüngeren beisteht, Fehler im Leben richtig
zu erkennen und zu bewerten und dass er selbstverständlich die Schulden
seines Sohnes ausbügelt, so gut er kann, wo jener sich in Unerfahrenheit
verrechnet hat"! (Hervorh. kvk, 9-10)
Problematisch an dieser Gleichnisrezeption ist die Kennzeichnung
der Motivation des verlorenen Sohnes, so als habe er sich aus "Unerfahrenheit"
oder Naivität "verrechnet," und die Zuversicht, dass nichts
geschehen sei, was der Vater nicht ausbügeln könnte. Was NS-Täter
im allgemeinen an diesem Gleichnis besonders schätzten war die Verheißung
des Vergessens, die in der väterlichen Annahme steckte. Sie hörten
darin ein "Schwamm drüber", und die väterliche Versicherung,
alle Schulden beheben zu wollen und den Sohn wieder aufzunehmen.
Eine Täterbiographie: Artur Wilke
Artur Fritz Wilke wurde 1910 in Hohensalza/Posen geboren
und hatte evangelische Theologie in Erlangen und Greifswald studiert (er
war Schlatter-Schüler), sowie Philosophie und Archäologie, bevor
er 1931 der NSDAP beitrat. Er schied 1932 wieder aus der Partei aus und
wurde mit seiner Burschenschaft Mitglied der SA. 1938 wurde er vom SD
(Sicherheitspolizei) angeheuert und kletterte die Karriereleiter der SS
hoch, in die er am 1. September 1939 offiziell eintrat. Als SS-Hauptsturmbannführer
wurde er einem Einsatzkommando in Minsk in Weißrussland zugewiesen,
wo er die Massentötungen von westlichen wie weißrussischen
Juden in Minsker Ghettos überwachte. Er war auch in den Pripyet Sümpfen
an der Partisanenbekämpfung beteiligt. Am 21. Mai 1963 wurde er vom
Landgericht Koblenz für "sechs Massentötungen von Juden",
deren Gesamtzahl vom Gericht auf 6.600 Menschen" geschätzt wurde
(sie war in Wirklichkeit erheblich höher) zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Das Gericht stellte fest, dass er in mehreren Fällen "Aufsichtsführender
an der Grube" war und die Erschießungen leitete . Es wurde
ihm attestiert, er böte "das Bild eines fanatischen, schwärmerischen
Nationalisten, der durch die damaligen Machthaber in seinem irregeleiteten
Idealismus missbraucht und ausgenutzt wurde" (313). Die Richter bemerkten
lakonisch, dass Wilke "zu einem klaren und geraden Denken nicht in
der Lage" sei (313). In der Tat zeichnet sich Wilkes Denken durch
Widersprüche und wortgewaltige Unstimmigkeiten aus, die er in endlos
langen Briefen und vermutlich ebenso langen Reden vor Gericht ausbreitete.
Das vorangegangene Zitat entstammt einem Brief, den Wilke
zum siebzehnten Geburtstag seines Sohnes verfasste. Der Brief ist undatiert,
aber der Sohn wurde 1963 konfirmiert, muss also 1966 17 Jahre alt gewesen
sein. Außerdem besuchte Bischof Stempel, der EKD-Beauftragte für
Kriegsverurteilte Wilke am 23. August 1966 und brachte ihm eine Vulgata
mit. Der 77 Seiten lange, handgeschriebene Brief legt eine neue Matthäusauslegung
aus Tätersicht vor und zitiert das Matthäusevangelium über
weite Strecken aus der Vulgata auf lateinisch. Man muss sich also das
Jahr 1966 oder 1967 vorstellen, in dem ein verurteilter NS-Täter
seinem 17-jährigen Sohn "einen guten Brief als kleinen Ersatz
dafür schreiben will, dass ich dir zu deinem Geburtstag nicht näher
sein kann, wie Du und ich es wohl wünschen." (1) Zu diesem Brief
muss auch noch gesagt werden, dass er sich im Original, mit einem Postskript
an Professor Hermann Schlingensiepen versehen, im Schlingensiepen-Nachlass
im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland in Düsseldorf befindet.
Der Sohn hat ihn vermutlich nie erhalten.
Ich möchte Wilke beim Wort nehmen, wenn er sich
zum evangelischen Glauben an Jesus Christus bekennt und behauptet, dass
er eine wahre Bekehrung erfahren hat. Er zieht fünf Lehren aus seiner
Erfahrung, die er seinem Sohn mitgeben möchte. Wilke ist es sehr
wichtig, seinem siebzehnjährigen Sohn zu zeigen, dass er sich ernsthaft
bemüht hat, die Fehler seines Lebens zu erkennen und zu bekennen:
"Verstehe Du, mein Junge, der Du um das ernste und
tapfere Bemühen Deines Vaters um das Leben einiges weißt, dass
uns die Wahrheit über den Fehler, für den wir einen so hohen
Preis zu zahlen hatten, indessen andere mit 2 Gewissen profitierten, dass
uns diese Wahrheit über den Fehler auch entsprechend Wert ist, wenn
es auch nur der einzige und auch nur ein geistiger Wert ist, den ich auf
das Habenskonto für euch bringen kann, und zwar so, daß Ihr
nicht noch einmal für solche verbrecherischen Weisheiten töricht,
gut und leichtgläubig zu bezahlen habt, weil auch Eure Lehrer nicht
die besten waren -sie waren auch schon unsere!-und sich gegenseitig untereinander
nicht trauen konnten!" (s. 72)
Beim ersten Lesen ist dieser Brief ein Zeugnis genuiner
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Wilke benutzt das Wort Fehler
83 mal in seinem Brief, das Wort "Sünde" taucht 30 mal
auf, davon 15 weitere Male auf lateinisch als peccare/peccatum, von der
"Schuld" spricht er 21 mal. Es ist ganz offensichtlich, dass
er seinem Sohn zeigen möchte, dass er offen über die Fehler
seiner Vergangenheit reden kann und dass er offensiv mit der Schuld in
seinem Leben umgeht. Als Christ weiß er von der "Vergebung",
ein Wort, das neunmal auftaucht und von der Versöhnung, die elfmal
erwähnt wird. Aber wie sieht nun die "Wahrheit über den
Fehler" aus?
Wilke zieht verschiedene Lehren aus seiner Vergangenheit,
die aber jeweils auf typischen Täterkonstruktionen dieser Vergangenheit
beruhen. Damit verbreitet er täterspezifische Fehlurteile und Misskonzeptionen,
die den Nachkriegsdiskurs in Deutschland nachdrücklich bestimmten.
Die sorgfältige Analyse solcher Dokumente ermöglicht einen Eindruck
in die verworrenen Denkstrukturen, die sich zwar bemühten, den Eindruck
von Offenherzigkeit und Wahrhaftigkeit zu erwecken, aber ganz der Leugnung
und Widerrufung verhaftet blieben. Täterdokumente sind maßgeblich
von solchen Vermeidungsstrategien bestimmt. Sie erschaffen Zerrbilder
der Ereignisse und nehmen Leser für sich ein, indem die Realität
der Opfer radikal ausgeblendet wird. Wilkes Verteidigungsargumente sind
in Variationen allen Menschen der Nachkriegsjahre wohl bekannt. Sie sind
so geläufig, dass sie normal und unausweichlich erscheinen.
Aber es ist wichtig, diese Gedankenwelt als eine spezifische,
der Täterperspektive verpflichtete, Argumentationsstruktur zu erkennen,
die letzten Endes dem Täterschutz dient. Das erste längere Zitat
erschließt die Definition des Fehlers, dessen sich Wilke bezichtigt
und den er bereut. Das zweite Zitat betrifft die Beschreibung des Judentums
und Wilkes nachträgliche Sicht auf die Opfer. Die dritte Lehre aus
der Vergangenheit missversteht und missrepräsentiert die Vergehen,
für die Wilke verurteilt wurde. In der vierten Lehre geht es um die
Gottesvorstellung, die Wilke nun anstelle des besiegten und deklassierten
Nationalsozialismus setzt. Im fünften Zitat, in dem Wilke am nächsten
an eine Beschreibung der Erschießungsaktionen, an denen er teilnahm,
herankommt, stellt sich die Frage nach dem eigentlichen Gewaltopfer.
1. Die Fehldiagnose des Fehlers: "Laß Du Dich
nicht missbrauchen!"
"Mach's gut, mein Junge: Erwarte nicht, wenn Du Dich
Zeitgesetzen unterwirfst, daß diejenigen, die Dir diese Gesetze
preisen und segnen, mit dir das geringste Mitleid und Erbarmen haben werden,
wenn sie in ihren irrtümlichen falschen Gesetzen morgen unterliegen,
ihr Spiel verspielen, wenn für sie die Stunde der Wahrheit eine ganz
andere Wahrheit bereithält. Da werden sie dich opfern. Tu videris
Das ist ihre Menschlichkeit, in der sie es wahrlich nicht weit gebracht
haben. Tu videris! D.h. warum warst du so dumm! Sie werden sich rechtfertigen
oder rückversichert haben und Du wirst erstaunt-sie auf Seiten der
Sieger sehen! Mach's besser!" (14-15)
Die nachkriegsdeutsche Täterwelt ist von radikaler
Subjektverleugnung geprägt. Jeglicher moralische Handlungsspielraum
wurde geleugnet, NS-Täter präsentierten sich als Werkzeuge eines
übermächtigen Regimes, dem sie nicht widerstehen konnten. Wilke
empfindet sich als hilfloses und ohnmächtiges Opfer zweier übermächtiger
Staatsführungen. Täter wollten lediglich Befehle befolgt haben,
für die sie keine Verantwortung übernehmen wollten. Diese Selbstdarstellung
wurde nicht nur von Mitgliedern der Einsatzkommandos, sondern maßgeblich
schon von der Führungsriege, die in den Nürnberger Prozessen
verurteilt, oder auch von Adolf Eichmann, dem in Israel der Prozess gemacht
worden war, entwickelt. Nach 1945 waren alle gutgläubig missbraucht
worden, nur ein Einziger Adolf Hitler, und in den späteren westdeutschen
Prozessen drei, konnten als Haupttäter ermittelt werden (Hitler,
Himmler, Heydrich). Die Haupttäter waren tot, die anderen waren nur
noch Gehilfen.
Der Fehler, den Wilke bereut und aus dem er Lehren für
seinen Sohn schmiedet, besteht also darin, der Obrigkeit und "falschen
Lehrern" gefolgt zu sein. Er möchte nur seinen naiven Idealismus
und seine Unter- und Einordnung in die Staats- und Volksgemeinschaft bereuen
und beschränkt seine Handlungsfreiheit auf die eines Werkzeuges,
eines willenlosen Rädchens im Getriebe. Seine Opferrolle wird bekräftigt,
wo ihn die folgende Staatsregierung nun aus veränderten politischen
Gründen zur Rechenschaft zieht ohne Eigenverantwortung zu übernehmen.
Er wird (unschuldig?) verurteilt. Er wehrt sich vehement dagegen, als
Verbrecher abgestempelt zu werden, da er ja, seiner Meinung nach, keine
Gesetze gebrochen, sondern rechtmäßig erteilte Befehle ausgeführt
hatte. Er gibt im Nachhinein zu, dass es sich um einen pervertierten Gesetzesrahmen
gehandelt haben möge, aber er kann keine Reue für Taten entwickeln,
die im Rahmen des Gesetzes begangen wurden. Wie die meisten Täter
reagiert er zutiefst beleidigt, wo er auf die Stufe eines ordinären
Verbrechers gestellt werden soll.
2. Antijudaismus: "Cavete a fermento Phariseorum!"
"Das ist innerlich derselbe Widerspruch, den wir
offen erleben, wenn ein polnischer Bischof (Kardinal Wischinsky) über
die Grenzen von Osten her zu den Deutschen spricht: "Wir vergeben!"
und gleichzeitig vom Westen her der jüd. Rabbiner aus Holland verkündet:
"Wir verzeihen und vergeben nicht!" In dem einen spricht als
Messias Jesus von Nazareth, in dem anderen der nach einer upi-Meldung
aus Jerusalem bereits geborene wahre Messias Uriel-Ben-David-Blau!
Und da wundert man sich über den Antisemitismus und
was darin in 1900 Jahren geschehen ist! Da ergeht es dann wieder vielen
Menschen, die guten Willens sind, wohl so, daß sie bisher wenig
Verständnis für den Antisemitismus hatten, ihn gewinnen, weil
ihnen ein tieferer Göttergrund dafür sichtbar wird, wie er über
sie kommt! (37)
Hinter der gegensätzlichen Behauptung zweier
sich wesensfremder Messias (auf der einen Seite Jesus Christus-auf der
anderen Seite Uriel ben David Blau, oder sind es noch mehr!) hinter den
sich entgegenstehenden Überzeugungen des Kardinals Wischinsky und
des Rabbiners in Amsterdam steht das entscheidende große Fragezeichen!
Der Gedanke der dialektisch verbrämten juristischen Repressalie,
der ununterbrochen fortgesetzten Wiedervergeltung führt doch zu einer
immer weiteren Steigerung des Rachegefühls bis zu jener letzten Konsequenz,
die ganz klar vorauszusehen ist. Ich glaube nicht, dass das der Geist
ist, den Gottes Wille segnet". (74)
Die Feindbilder, die den Völkermord an den Juden
legitimierten, bleiben hier fast ungebrochen bestehen. Zwar sind sich
Täter in den sechziger Jahren bewusst, dass rassistischer Antisemitismus
nicht mehr offen ausgesprochen werden darf, aber traditionelle Chiffren
transportieren denselben Inhalt. Wilke spricht von den "Stammesbrüdern"
Jesu von Nazareth, die ihn "bis heute ans Kreuz schlagen," (4)
den Pharisäern und Schriftgelehrten, die das Wort verdrehen und die
Gesetze schamlos zu ihrem Nutzen und Profit ausnutzen. Er mag von Juden
nur noch in Code sprechen, aber seine Verachtung alles Jüdischen
ist kaum gezähmt. Sie lugt hinter seinen Tiraden gegen "die
Hass- und Rache- und Vergeltungsprediger" (47) hervor und spricht
durch die antithetische Positionierung des Judentums als Gegenteil der
christlichen Botschaft:
Empathie oder Mitgefühl für die Opfer seiner
Gewalthandlungen kann in diesem Weltbild nicht aufkommen. Wilke bleibt
davon überzeugt, dass eine ungeheure Gefahr von Kommunisten, Juden
und Partisanen ausging, die nachhaltig-eben auch mit Gewalt-gebannt werden
musste. Die Entmenschlichung der Feinde wird festgeschrieben und so wundert
es nicht, dass Wilke an keiner Stelle über die Männer, Frauen
und Kinder, die zu erschießen er mithalf, spricht. Wo er von "Partisanen"
schreibt, da werden sie als Sadisten charakterisiert, die voller Heimtücke
aus dem Hinterhalt agierten. Mit solchen Untermenschen durfte man kein
Mitleid haben, die Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die
von ihnen ausging, musste mit allen Mitteln bekämpft werden. Empathie
mit den Opfern oder eine Einsicht in die Unrechtmäßigkeit der
Gewalt ist nicht gegeben.
3. Krieg als Verbrechen: "Ne occides!"
"Jesus hat gesagt: Ne occides! Du sollst nicht töten!
Er sagt damit: Um Gottes Willen zu tun, besteht keine Notwendigkeit für
Euch zu töten. Als Befehl ist dieses Gebot gesetzt! Er hat nicht
getötet bis an sein irdisches Ende. Er hat alles getan um von seiner
Seite-auf der damals auch seine Schüler standen, wogegen seine Schriftgelehrten
von heute sogar bereit zu einem Massenmorden sind, das die Verurteilten
von gestern als Anfänger erscheinen lässt. (29)
...Es ist immer die schwerste, belastendste Frage in unserer
Religionsgeschichte und Lebensgeschichte gewesen, ob man seine Feinde
töten dürfe (langsam oder schnell, einzeln, zu zweien, dreien,
usw.) ob man auf staatl. Befehl töten dürfe, ob die Glocken
unserer Glaubenslehre bei dem Morden, bei dem Massenmorden läuten
dürfen oder nicht. Wenn wir einmal von der gesamten europäischen
Mordgeschichte nur die unserer Zeit betrachten, haben wir in der bejahenden
Antwort diese theologische Gewissensfrage erlebt, daß im 1. Weltkrieg
(mit "Gott mit uns" auf jeder Seite) 100 Millionen Christen
auf der einen Seite (davon 40 Mill. Evangelische und ca 60 Millionen katholische
Christen und 100 Millionen Christen auf der anderen Seite (davon ca 60
Mill. evangl. Und 40 Mill. kathol. Christen) sich gegenseitig, ohne daß
ihnen ihr Gewissen Einhalt gebot, zu Millionen heimtückisch, brutal,
erbarmungslos und gnadenlos, einzeln und in Haufen mordeten, sodaß
am Ende ein schönes gottgewolltes Massengrab von 9.7 Millionen gezählter
Toter stand-die "ausgehungerten" verhungerten deutschen Frauen
und Kinder und Greise hat man nur schätzen können-ein ganz schönes
Massengrab! Sodaß man nach den Voraussagen des Gottessohnes für
ein solches Handeln im guten Glauben wohl zweifeln kann, ob diese Geister
jemals auferstehen werden und das Himmelreich gewinnen können, und
nicht viel mehr schon jetzt in die Hölle gefahren sind. Und sie haben
auch sein Vorbild zum Nacheifern im 2. Weltkrieg, in dem wir dann erlebt
haben, wieweit man in solcher gerechtfertigen Schlussfolgerung des Gedankens
kommt, daß das gottgewollte Morden eine naturnotwendige ethische
Not, die man nun mal auf sich nehmen müsse; dass das Morden Gottes
Wille, Gesetz, Gericht und die Freiheit (Frieden und Gerechtigkeit) zu
gewinnen und zu erhalten um Gerechtigkeit und politische Forderungen auf
Erden herzustellen, dass es ein notwendiger Befehl sei, die Feindschaft
in der Welt dadurch aufzuheben, dass man die Feinde tötet. An Ende
standen wir dann vor den Massengräbern von 55 Millionen Toten! Die
Steigerung beim 3. Mal, da ja alle guten Dinge drei sind!??? In beiden
Massenmorden blieb das Morden Mord!" (30-31)
Hinter dieser pazifistischen Lehre, die aus der Vergangenheit
gezogen wird, steckt eine weitere Tatverleugnung. Wilke möchte den
Völkermord als Teil legitimer Kriegsführung verstanden wissen.
Er scheut sich nicht, das Wort "Massenmord" zu diskutieren,
ein Wort, das zehnmal in diesem Brief auftaucht, aber es bezieht sich
in jedem Fall auf Kriegsführung und kein einziges Mal auf Völkermord.
Indem jeder Krieg als Massenmord dargestellt wird, wird jeder Soldat als
Instrument massenhaften Mordens unschuldiger Anderer missbraucht. Wilke
stellt sich in die Tradition aller Soldaten, die auf Befehl töten
mussten und schützt sich in der allgemeinen Fragwürdigkeit solcher
Befehle vor der konkreten Frage seines Tuns. Er wurde ja nicht als Soldat
verurteilt, sondern als SS-Mann. Diese Einzigartigkeit des Massenmords
bleibt unerwähnt. Er erhebt den Pazifismus zum absoluten Gebot Gottes,
was es ihm makabererweise erlaubt, sich aus der konkreten Verantwortung
für Völkermord und das methodische Hinschlachten von Frauen,
Kindern und Greisen zu entziehen.
Er wirft der Kirche die Tradition des Gerechten Krieges
vor, weil sie, seiner Meinung nach, die moralische Verwirrung des kleinen
Mannes mitzuverantworten hat. Die kirchliche Position, Gewaltanwendung
im Falle der Selbstverteidigung zu legitimieren, ist ihm insbesondere
in der zeitgenössischen Vorbereitung zum Nuklearkrieg im kalten Krieg
eine Potenzierung des Massenmordes. Die kirchliche Lehre vom gerechten
Krieg, mit der Kriterien entwickelt wurden, um rechtmäßige
Gewaltanwendung von unrechtmäßiger zu unterscheiden, wird Wilke
zur fragwürdigen Augenwischerei. Indem er das Tötungsverbot
der zehn Gebote und der Bergpredigt universalisiert und verallgemeinert,
verschwindet das konkret Anstößige seines Einsatzes. Wo jeder
Krieg zum Massenmord ausartet, da wird das Besondere an Völkermord
aufgelöst.
4. Gott als Führer: "Gottes Gebote haben keine
Nach- und Nebensätze, kein Wenn und Aber, keinen Konjunktiv!"
"Das Wichtigste: halte dich an seine Gesetze und
Weisungen, die dir den Weg weisen, den wir zu gehen haben! Dann wird Gott
mit dir sein! Dass ER Dich nicht verlassen wird in Deinem ehrlichen Bemühen,
darauf kannst Du dich verlassen. Verlass Du ihn nicht, indem Du dich verirren
lässt von denen, die glauben, neben Gott noch rückversicherungshalber
einige andere Götter haben zu können, neben Gott selbst selbstherrliche
Gewalten, Götter spielen zu können, aber Gottes klares Wort
nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, oder die glauben es besser
zu machen zu können als ER, bessere Gesetzesmacher zu sein als ER.
Unterscheide gewissenhaft zwischen Gottes Gesetzen und den Gesetzen in
Ost und West, in denen sich jeder in seinem Rechte wähnt, die man
aber wie einen amerikanischen Kaugummi ziehen kann, und die jeder nächste
nachfolgenden Gott wieder ändern und aufheben kann, wie er will,
ganz nach Belieben, wie er seine Macht und Tage zu sichern glaubt, aber
in deren Auslegung und Anwendung sie sich untereinander nicht einmal einig
werden können, wo man die Rechte studiert, weil es das einträglichste
Geschäft wird zu wissen, wie man am besten durch alle diese Gesetze
hindurch kommt aber andere darin hängen lässt!"
Hier ersetzt ein Absolutismus einen anderen: an die Stelle
des Führers, dessen Wille absolut gültig war, tritt nun Gott.
Das Bedürfnis nach Klarheit und Reinheit, nach Harmonie und absolutem
Gehorsam bleibt bestehen. Das Führerprinzip ist ihm lieber als eine
politisch-demokratische Rechtsfindung, die sich bestimmten, biblischen
Prinzipien verpflichtet weiß, und diese in einem hermeneutisch reflektierten
Prozess auslegt und anwendet. Er kritisiert die "Fragwürdigkeit"
im demokratischen System: Wir malen und dichten, philosophieren, theologisieren,
dialektisieren, judizieren und moralisieren nur noch im Fragwürdigen-könnte
man meinen!" behauptet Wilke und meint damit das zeitgenössische
Ringen um Wahrheit und politische (oder theologische) Meinungsbildung.
Er sehnt sich nach klaren Hierarchien und ungefragter Unterordnung. Er
rät seinem Sohn, sich aus der Politik herauszuziehen und stattdessen
ganz auf Gott zu vertrauen.
Obwohl radikaler Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes
auch die Widerständler in ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus
nährte (z.B. Bonhoeffer), ist eine solche Gottesrede oft in einer
anti-demokratischen Grundgesinnung verwurzelt. Auch Kirchenfunktionäre
witterten im Nationalsozialismus menschliche Selbsterhebung und forderten
Unterwerfung unter Gottes "klares Wort". Oftmals versteckt sich
dahinter großes Misstrauen gegenüber demokratischer Wahrheitsfindung.
Denn das Wort Gottes muss ja immer, wie zum Beispiel im vorher diskutieren
Tötungsverbot, durch menschliche Auslegung gefiltert und in Auseinandersetzung
mit der Tradition und der spezifischen (politischen) Situation entwickelt
werden. Solche Auseinandersetzungen führen weniger zu zynischer Fragwürdigkeit
als Forderungen nach absolutem Gehorsam-auch wenn das Heil Gottes dem
Heil des Führers nun übergeordnet wird.
5. Der Täter als Opfer "Wie leicht ist es doch,
über andere zu richten und ihr Leben preiszugeben (69)"
"Man kann wohl nur in juristischen Spitzfindigkeiten
Mord und Totschlag, das Töten qualifizieren, Gradunterschiede darin
herstellen! Im Grunde kommt es dabei nur darauf an, wie man den Pinsel
schwingt und die Schreckensbilder in das Bild setzt,-- um einen komplizierten,
einfachen Sterblichen nach seinem äußerlichen Verhalten in
seiner seelischen Not, mit dem er seine innerliche Ratlosigkeit und Hilflosigkeit
und alle Stimmen in sich überschrie und totschlug, das Beste in sich
totschlug--, die ihn vergewaltigen und umzuwerfen drohten, die er mit
unbegreiflichen Handlungen zu überwinden und zu überstehen suchte,
um dabei nicht selbst mitzufallen vor einer Situation, in der man ihm
das Töten befahl, suggerierte oder als ein Gutes und Notwendiges
gab, dass man-um ein höheres Rechtsgut zu schützen -- seine
Feinde töten müsse, um einen solchen Mann als einen bösen
Exzesstäter zu beurteilten, zu richten und zu verdammen, in der gleichen
Situation aber einen sachlichen kühlen Juristen ganz anders sehen
kann, der von der gleichen Haltung und bürokratischen Selbstdisziplin
"innerlich unberührt" davon blieb, kühl bis ans Herz
hinaus (das liebste Lob eines jeden weisen Juristen), so unberührt
von seinem heimtückischen und brutalen Töten, so über der
Sache stehend, dass er schweigen kann, dass er sich an seine Kopfschüsse,
die er getan hat, gar nicht mehr erinnern kann (oder zu gut?), der die
Merkmale seines beherrschten kühlen Tötens von seiner Hand und
aus seiner Vergangenheit wischt, dass er alles andere als die Wahrheit
bekennt-indessen der andere Arme ehrlich (und was ist das für eine
Reue!) gesteht: hier stehe ich! Ich konnte nicht anders! -- wobei es ihm
damals wie jetzt das Herz zerreißt-(der eine der Starke! Der andere:
der Schwache. Who is who?)" (32)
Wilke beschreibt die Erschießungen jüdischer
Menschen an den Gruben in weißrussischen Wäldern an keiner
anderen Stelle so ausführlich wie hier. Das Frappierende an dieser
Stelle ist die Tatsache, dass das Objekt brutaler Tunwörter wie "vergewaltigen"
und "totschlagen" nicht die Körper seiner jüdischen
Opfer, sondern die Seele des Täters ist. In der Retrospektive fühlen
sich die Vollstrecker des Völkermordes als Opfer ihrer eigenen Gewalttaten.
Das innerliche Leiden der Täter überdeckt das reale, physische
Grauen der Opfer, die auch Jahre später kaum in den Blick kommen.
In dieser letzten Lehre aus der Vergangenheit wird deutlich, dass den
Opfern keinerlei Realität im Selbstbild der Täter eingestanden
wird. Ihre Vernichtung ist total, da ihre Nichtigkeit immer wieder in
Worten reinszeniert wird.
Rechtfertigung und Täterrealität
Die evangelische Rechtfertigungslehre suggeriert eine
fast magisch anmutende Befreiung von der Schuld, die der Realität
der Zerrbilder und Vermeidungsstrategien, die wir hier am Originalton
eines weitgehend unbekannten, verurteilten NS-Täters festgestellt
haben, nicht gerecht wird. Es geht mir bei dieser ausführlichen Analyse
nicht darum, Wilke zu verurteilen, sondern darum, auf die nachhaltige
Macht der Ideologien und Strukturen, in die ausführende Organe eines
Völkermordes verstrickt sind, hinzuweisen. Die planmäßige
"Vernichtung" des europäischen Judentums stellt ein Trauma
dar, aus dessen Verstrickung auch eine wahrhaftig erlebte Glaubenserfahrung
nicht retten kann. Die Behauptung, eine solche Schuld könnte getilgt
oder dem Täter könnte eine Neugeburt ohne belastende Vergangenheit
versprochen werden, führt zwangsläufig zu Bonhoeffers "billiger
Gnade."
Wilke missversteht die Schuldvergebung als Erlaubnis,
das Vergangene hinter sich zu lassen, obwohl er mit jeder Faser seines
Wesens in dieser Vergangenheit verhaftet bleibt. Er zitiert Johannes,
wo "Jesus ... zu der Frau, die ein großes, lebenswichtiges
Gebot vergessen und etwas sehr Böses getan hatte (Joh 7) [sagte]:
"Ne ego te condemnabo: vade, et iam amblius noli peccare!" Ich
will dich nicht verdammen: geh hin und vermeide weitere Fehler!"
(6). Aber er selber kann seinen jugendlichen Enthusiasmus, seine leidenschaftliche
Hingabe an Führer und Vaterland nicht wirklich hinter sich lassen.
Im Kontext von Staatsverbrechen, wie Völkermord, verfehlt die individuell
angelegte christliche Vergebungsbotschaft das eigentliche Thema. Sie suggeriert
eine Befreiung von der Last der Schuld und ein Ende der Vergangenheit,
die für Wilke auch zwanzig Jahre nach Ende der Kriegshandlungen nicht
realistisch ist. Ich schlage deshalb vor, von Vergebung nicht als Entlassung
aus der Vergangenheit, als einer Aufhebung der Schuld oder einem Freikommen
von der Erinnerung zu sprechen. Sondern es geht doch eher darum, einen
Mann wie Wilke dazu zu ermächtigen, seine Schuld angemessen zu erkennen
und zu tragen. Was sein Sohn wohl erwartet hätte, wäre einen
Vater, der auch nur an einer Stelle dieses langen Briefes Mitgefühl
für die Opfer hätte durchscheinen lassen. Man will und kann
Wilke nur dort Respekt zollen, wo er bereit ist, das Grauen zuzulassen
und auszuhalten. Aber Wilke kann sich zu seinem Judenhass nicht stellen
und nicht zugeben, dass er willig und aus Überzeugung an ihrer Ermordung
teilnahm. Mit anderen Worten, die Gnade des barmherzigen Gottes besteht
nicht darin, den abtrünnigen Sohn willkommen zu heißen, indem
die Vergangenheit vergeben und vergessen wird, sondern darin, ihm ein
Leben im Angesicht und in der Verantwortung für diese Vergangenheit
zu ermöglichen.
Das Kainsmal als Gnade der Erinnerung
Es gibt in der hebräischen Bibel vier Metaphern für
Schuld und Vergebung. Man kann sich die Schuld als eine Bürde vorstellen,
die auch einem anderen, zum Beispiel einem Sündenbock, aufgebürdet
und übertragen werden kann. Gott kann die Schuld eines Missetäters
zweitens "bedecken" oder drittens auch "tilgen". Die
vierte Vorstellung kommt aus dem Schuldnerwesen, und man kann sich Vergebung
als das Erlassen einer Geldschuld vorstellen. In der biblischen Vorstellungswelt
wird Schuld oft als Verunreinigung verstanden, die weggewischt, getilgt
oder "reingewaschen" werden kann: (Psalm 51, 9;11) "die
Idee der Sünde als eines Schandflecks und der Reinigung und Sühne
als eine Beseitigung dieses Blutmals formen den Bildhintergrund der Bibel"
(2002, 185) .Sühne und Versöhnung werden dann als ein Reinigungsritual
verstanden, wobei das Blut eines unschuldigen Opfers das Schandmal wegwaschen
kann. Der israelische Philosoph Avishai Margalit analysiert diese vier
verschiedenen biblischen Vergebungsbegriffe in The Ethics of Memory und
kritisiert diese Reinigungsvorstellung der Versöhnung als "religiös"
und "magisch", weil sie eine "totale Tilgung" und
" absolute Auslöschung der bösen Untat" verspricht.
(197) Stattdessen zieht er biblische Begriffe wie "bedecken"
und "ausstreichen" vor, da sie keine "magische" Beseitigung
oder Löschung der Vergangenheit beinhaltet.
"Ich argumentiere, dass das Bild des "Bedeckens"
[der Sünde] konzeptionell, psychologisch und moralisch dem Begriff
des "Tilgens" vorzuziehen ist-d.h. es ist besser, die Erinnerungen
an eine Missetat zu bedecken als sie zu löschen. In Kürze, ich
werde demonstrieren, dass Vergebung auf einem Übersehen der Übertretung
basiert und nicht auf ihrem Vergessen." (197)
Margalits Vergebungsverständnis als "Bedecken"
und "Wegwischen" wurzelt im hebräischen Begriff des kipper,
das sowohl bedecken wie versöhnen bedeutet und aus dem der Versöhnungstag
Jom Kippur abgeleitet ist. Nach jüdischem Verständnis besteht
t'shuvah in einer Rückkehr zu Gott und Gerechtigkeit, die keine Auslöschung
der Erinnerung abnötigt. Reue und Bußfertigkeit sind, nach
Margalit's Überzeugung, ein "nicht-magischer Weg, die Vergangenheit
zu widerrufen" (199). Ein Täter, der umkehrt, verändert
seine Einstellung zur Vergangenheit und zeigt mit seiner Reuefähigkeit,
dass er nicht grundsätzlich böse ist, auch wenn die Tat, die
er begangen hat, verabscheuungswürdig war. Deshalb kann man einem
Übeltäter verzeihen, auch wenn man das Delikt nicht vergessen
kann...Vergebung ist nicht gleichbedeutend mit Sündentilgung"
(200).
Das Kainsmal scheint mir ein anderes Modell göttlicher
Gnade im Leben eines Täters vorzuführen, das ebenfalls Vergebung
nicht als Schuldentilgung und Vergessen, sondern als ehrliche und respekteinflössende
Annahme der Vergangenheit beschreibt. Das Kainsmal ist kein Schandmal,
sondern ein Schutzmal, das es Kain erlauben soll, mit der Erinnerung an
den Brudermord leben zu lernen. Dieses Mal kann nicht mit einem Sühneopfer
weggewaschen werden, da es gleichzeitig Schutz verheißt.
Das Kainsmal wird landläufig als Strafe missinterpretiert
oder als eine Art permanentes Stigma und Schandmal. Es wird als göttliche
Aufforderung zur Ächtung und Demütigung verstanden, als Fluch,
der Kain ins Exil folgt. Verstanden als Stigma hatte die Geschichte des
Kainsmals eine grausame und repressive Vergangenheit. Seit Augustinus
wurde die Kainsgeschichte als Paradigma des jüdischen Schicksals
in der christlichen Welt verstanden. Die Synagoge hatte als älterer
Bruder den unschuldigen Gottessohn ermordet und sollte nun, mit dem Mal
gezeichnet, die Heimat verlieren und als ewig wandernder Jude durch die
christlichen Lande ziehen, einer ewigen (gottgewollten) Deklassierung
und Diffamierung ausgesetzt. Diese problematische und gefährliche
Auslegungsgeschichte soll hier nicht vergessen werden.
Aber in der Genesisgeschichte ist das Kainsmal getrennt
von der Strafe. Kain wird dreifach bestraft: er verliert seinen Beruf
als Farmer, da die Erde ihm die Früchte verweigert. Er verliert seine
Familie, Ursprungsgemeinschaft und Heimat und muss sich auf ein wurzelloses
Leben im Land Nod , d.h. auf der Wanderschaft, einlassen. Er verwirkt
eine unmittelbare Beziehung zu Gott. Diese dreifache Bestrafung entzieht
ihm die unsichtbaren Sicherheitsnetze, die ihn in privilegierter Unwissenheit
und vermeintlicher Unverletzlichkeit gefestigt haben. Er ist auf sich
allein gestellt und muss lernen, ohne das Sicherheitsnetz, das seine Handlungsfähigkeit
und seinen Gewaltakt ermöglicht hat, zu leben. Aber das Gottesmal
ist als ein Zeichen der Gnade gegeben, das ihn in dieser neuen Verletzlichkeit
trägt. Es ist nicht ein Schandmal, sondern sichtbares Zeichen einer
Aufgabe und Verpflichtung.
Systematische Ungerechtigkeit schafft dauerhafte Privilegien,
Profite und Vorteile für die Täter, während sie langfristige
Nachteile, Schäden und Nöte im Leben der Opfer hinterlässt.
Der Holocaust hat nicht nur sechs Millionen jüdischen Menschen das
Leben genommen, sondern ihre Kulturen und Traditionen vernichtet. Ihr
Eigentum wurde systematisch umverteilt, woraus nicht nur die Täter,
sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder noch Vorteile erzielen. Das
Kainsmal kann den langwierigen, verbindlichen Abbau jener psychologischen,
politischen, wirtschaftlichen und religiösen Privilegien umschreiben.
Es ist der Abbau der ungerechten Erträge der Gewalt, durch den eine
Täterkultur ihre Umkehr vom Unrecht signalisiert. Claudia Card ist
eine der wenigen politisch-progressiven Philosophinnen, die argumentiert,
dass man unter "Vergebung" keine Gewissensentlastung verstehen
sollte, sondern eine Aufgabe und Bürde. Den Tätern, so schreibt
sie, erwächst aus ihrer Schuld an den Opfern eine Verpflichtung,
aus der sie sich nicht selbst befreien können. Die Macht, die Täter
aus der Verpflichtung zu entlassen, gehört ausschließlich den
Opfern. Die Bürde der Schuld, die sich die Täter aufgelastet
haben, so behauptet die analytische Philosophin, sollte nicht negativ
gesehen werden. Diese Last ist nicht bedrückend und lähmend,
sondern erschließt den Tätern in verantwortlicher Annahme eine
neue Zukunft:
"Wir stellen uns unter einer Bürde natürlich
etwas Belastendes vor, was so schnell wie möglich beseitigt werden
sollte, da es schwer ist und uns bedrückt. Aber Bürden müssen
nicht nur herunterziehen. Wer eine Bürde gut trägt baut Kraft
auf, was dazu beiträgt, den Respekt Anderer neu oder wieder zu gewinnen
und Selbstbewusstsein neu oder wieder zu entwickeln."
Man könnte das Kainsmal als ein Zeichen der Bürde
verstehen, die verantwortlich, kreativ und produktiv getragen werden muss.
Das Auf-sich-Nehmen des Kainsmals erschließt Menschenwürde
und bewirkt Gerechtigkeit. Es bezeichnet ein ausdauerndes, verbindliches
Reformstreben, das die Beziehungen zwischen Täter und Opfer nachhaltig
erneuert. Die Sündenvergebung wird dann nicht das Resultat der Begegnung
mit einem raum- und zeitlosen Gott verstanden, sondern als das tastende
Zugehen auf den entrechteten und machtlosen Anderen. Eine so verstandene
Vergebung sieht sich dem Abbau ungerechter Privilegien, dem Ausgleich
einseitiger Machtgefälle und dem Heilen gebrochener Beziehungen verpflichtet.
Das Kainsmal ist kein einmaliges Vergebungserleben, sondern ein dauerhafter
Vorgang, der sich über die Zeitzeugengeneration hinaus erstreckt
und Kinder und Kindeskinder mit einschließt. Nicht Entlastung, sondern
die willig aufgenommene, aus Unrecht erwachsene Verpflichtung ermöglicht
erst den aufrechten Gang.
Die im Nachkriegsdeutschland praktizierte evangelische
Rechterfertigungslehre versprach eine Absolution der Sünden (Plural)
als Sofortentlastung und Totalbefreiung. Grundsätzlich wurde von
neugläubigen NS-Tätern selten erwartet, dass sich die im Ritual
der stellvertretenden Sühne Christi vollzogene Versöhnung in
konkreten Gesten gegenüber den ehemaligen Opfern manifestierte: weder
die Bitte um Vergebung, noch persönliche Entschädigungsakte
oder Wiedergutmachungsgesten gehörten zum Rüstzeug christlicher
Vergebungspraxis. Stattdessen reihte sich die christliche Sündenvergebung
ins Arsenal der Verdrängungsstrategien ein, mit denen sich NS-Täter
aus den Verstrickungen ihrer Vergangenheit befreien wollten.
Vortrag, gehalten auf einer Tagung der Ev. Akademie
Arnoldshain, November 2007
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