Die Rede von Schuld und Vergebung als Täterschutz
von Katharina von Kellenbach
(gewidmet Nathan Cohn Magnus)

Die Rede von Schuld und Vergebung ist, zumindest im protestantischen Kontext, stark von der evangelischen Rechtfertigungslehre geprägt. Es wird in diesem Beitrag also zunächst das evangelische Verständnis der Sündenvergebung am Beispiel des systematischen Theologen Jürgen Moltmann kurz umrissen werden. Moltmann hat sich speziell für das Problem der "Befreiung der Unterdrücker" interessiert und formuliert wie die Gerechtigkeit Gottes auch die Täter von Unrecht ergreifen kann. Der zweite Teil wird anhand einer ausführlichen Analyse eines Briefes, der von einem theologisch vorgebildeten NS-Täter in den sechziger Jahren geschrieben wurde, fragen, wie sich die Rechtfertigungslehre konkret im Leben eines Mannes auswirkt. Zum Abschluss soll das Kainsmal als alternatives Paradigma göttlicher Gnade im Leben schuldhaft belasteter politischer Täter angedacht und an meiner autobiographischen Geschichte beispielhaft beschrieben werden.

Jürgen Moltmann hat sich als Befreiungstheologe und engagiertes Mitglied des jüdisch-christlichen Dialogs dem Problem der "Befreiung der Unterdrücker" zugewandt. Er hegt dabei keine Illusionen und ist sich der Macht der Selbstgerechtigkeit im Leben eines Täters durchaus bewusst. Er sieht die

"Blindheit und Verblendung der Unterdrücker: sie sehen die Leiden der Opfer nicht, die sie verursachen. Sie sind verblendet: Sie rechtfertigen ihre Niedertracht mit vielen Gründen. Die Befreiung der Unterdrücker ist darum eine, jeden guten Willen übersteigende Erfahrung. Der Herr muß sterben, damit der Bruder geboren werden kann." (527)

Für Moltmann gründet sich die Erlösung eines Täters von der Schuld und damit seine Befreiung zur Menschlichkeit in der Kreuzigung Christi. Seine Rechtfertigungslehre ist seiner Kreuzestheologie verbunden: Christus stirbt für die Sünd' der Welt. Die gläubige Annahme dieses Sühneopfers ermöglicht es dem Sünder sich seiner Schuld bewusst zu werden. Die bedingungslose Liebe des Vaters geht aktiv und unverdientermaßen auf den Täter zu und bietet ihm die Sühneleistung des Sohnes, um ihn aus der sündhaften Verstrickung zu erlösen. In der gläubigen Empfängnis der Sühne Gottes erfährt der Täter die Befreiung von der Last der Schuld. Moltmann bringt das prägnant auf die folgende Formel:

"Wie kommt also die Sühne zu den Tätern von Unrecht und Gewalt? Sie kommt aus dem Erbarmen des Vaters, durch die stellvertretend erlittene Gottverlassenheit des Sohnes und in der entlastenden Kraft des Heiligen Geistes. Es ist eine einzige Bewegung der Liebe, die aus dem Schmerz des Vaters entspringt, im Leiden des Sohnes offenbar und im Geist des Lebens erfahren wird. So wird Gott zum Gott der Gottlosen. Seine Gerechtigkeit rechtfertigt die Ungerechten."(151; Geist des Lebens)

NS-Täter haben diese evangelische Botschaft gehört und sie sich zu eigen gemacht. Aber konnte ihre religiöse Praxis zur Umkehr führen? War es NS-Tätern, die zwar subjektiv bekannten, "in das ewige Leben der göttlichen Liebe hinein" genommen worden zu sein, tatsächlich möglich, ihre Verachtung gegenüber ihren Opfern zu überwinden? Wie sieht denn "Umkehr", Metanoia, Erlösung vom bösen Geist im Kontext des Nationalsozialismus aus? Ist es realistisch zu erwarten, dass aus einem Saulus ein Paulus, aus einem überzeugten Nazi ein neuer Mensch wird, welcher der nationalsozialistischen Weltanschauung abschwören und die mörderische Verfolgung der Opfer herzlich bereuen kann? Kann ein Mensch innerhalb eines Lebens eine solch radikale Veränderung überhaupt leisten?

Ich wollte also ganz konkret und historisch genau wissen, wie sich die evangelische Rechtfertigungslehre, wie sie von Moltmann systematisch-theologisch auf den Punkt gebracht wurde, in den Interniertenlagern, den Militärgefängnissen und Zuchthäusern auswirkte. Dafür suchte ich nach Täterdokumenten, von denen ich zunächst annahm, sie seien schwer zu finden, weil über den Täter ein Schleier des Schweigens und des Vergessens läge. Dem war nicht so. Die Täter, die in meiner Arbeit eng definiert, nur jene Männer und Frauen einschließt gegen die Anklage wegen Tötungsverbrechen erhoben wurde, äußerten sich ausführlich und umfangreich. Die Archive quellen über und ich habe insbesondere die Dokumente der Täterseelsorge in Kirchenarchiven gesichtet und die Briefe, Tagebücher, die Rückblicke von Tätern und Pfarrern, sowie Predigten, Seelsorgehandreichungen und Kontakte zu Familienangehörigen durchforstet, um eine Einsicht in die moralische, politische und spirituelle Befindlichkeit von NS-Tätern zu bekommen. Natürlich unterliegen Seelsorge und Beichtgespräche dem Siegel des Beichtgeheimnisses und es wird immer schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, die "Reue" eines Sünders oder Straftäters von außen nachzuvollziehen oder empirisch zu messen.

Das folgende Dokument wird dennoch glaubhaft darstellen, warum Moltmanns Kreuzestheologie und Rechtfertigungskonzeption in der Begegnung mit dem Gottessohn zu kurz greift und keine Reue, Umkehr und Schuldeinsicht bei staatlich legitimierten Gewalttätern auslösen kann. Meine Kritik an der kirchlichen Praxis der "Schuld und Vergebung als Täterschutz" beziehen sich ausschließlich auf staatlich legitimierte Gewaltverbrechen und sollten nicht auf Gefängnisseelsorge mit "normalen Kriminellen" übertragen werden. Viele der NS-Täter meiner Studie waren gebildete Männer, Rechtsanwälte, Theologen, Lehrer, Ärzte, die sich ausgiebig mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Es wird deutlich werden, dass die idealtypische Sprache von Schuld und Sünde, wie sie unter Theologen (unter Philosophen) üblich ist, von der Realität der NS-Täter abweicht. Wenn man die Täter in ihrer eigenen Sprache zu Wort kommen lässt und in ihrer Gedankenwelt ernst nimmt, dann bieten sich andere biblische Modelle zu Schuld und Vergebung an. Es geht mir also darum, die Welt der Täter zum Ausgangspunkt theologischer Reflektion über Schuld und Vergebung zu machen und nicht ungekehrt, die dogmatische Lehre ihrer Erfahrung überzustülpen.

In den Worten eines NS-Täters, den ich hinterher biographisch vorstellen möchte, hört sich die evangelische Rechtfertigungslehre, die Moltmann systematisch darstellte, so an:

"Wie wenig hat Jesus von Nazareth, der Göttliche, der Menschensohn, der Weiseste seines Vaters-so weise, dass ihn alle Rabbiner der Synagoge bis heute verstoßen und verdammt haben!-wie wenig hat ER von der Sünde gesprochen! Wie selten hat er das Wort "peccatum" im Munde gehabt! ER hat keine Lasterkataloge aufgestellt und nicht wie unsere moderne Psychoanalyse in Schmutz und Schande der Vergangenheit eines Lebens herumgewühlt und den Menschen Stinkkübel vor die Nase gehalten, um sie auf diese Weise ihre bösen Irrtümer und Fehler, ihre Sünden erkennen zu lassen!" (9-10)

Hier ist traditioneller theologischer Antijudaismus am Werk, der den christlichen Gott der Liebe einem angeblichen Gott der Vergeltung im Alten Testament gegenüber stellt. Der Autor setzt die unbedingte Vergebungsbereitschaft des Neuen Testamentes gegen den als jüdisch charakterisierten Rache- und Vergeltungsgeist. Sein Antijudaismus spricht nicht nur durch die als feindlich beschriebenen Rabbiner, sondern schwingt auch in seiner Ablehnung der Psychoanalyse mit, die ja bekanntlich vom Juden Sigmund Freud erfunden wurde. Wer nicht bereit ist, die Sünden der Vergangenheit ruhen zu lassen, wühlt in "Schmutz und Schande," und quält den armen Sünder mit ihrem Gestank, um ihn zu demütigen und zu peinigen. Ganz im Unterschied dazu handelt Jesus, der dem Sünder:

"sein eines Herz, sein reines reumütiges Leben, seinen Gottesgehorsam in Gerechtigkeit und Liebe entgegengestellt, seine treue Bruderliebe entgegengebracht-sein Beispiel, sein Vorbild gegeben! Da brauchte er nicht viel von Fehlern, von Sünde zu sprechen ... Sie wurden denen, die ihn hörten und sahen, in seinem Gegenlicht, erschreckend, beschämend und verwandelnd von selbst sichtbar! Da leuchtete es jedem seiner Augenblicke: Vade, et iam amplius noli peccare! Da verringerte sich der Abstand des menschlichen Herzens von Gott, nur es erfasste das tiefste Verlangen das lebende Herz, von den Irrtümern, von den falschen Urteilen schwacher Erkenntnis, von jämmerlichen verderblichen Tun, von ihrem Vergehen, von ihren Sünden freizukommen, befreit zu werden. Und sie glaubten seinem Wort und verzweifelten nicht, sie glaubten nicht in Theorie, sondern in der Praxis! Und ihr Glaube hat ihnen geholfen! Es geschehe ihnen, wie sie geglaubt hatten. Und so wurden ihnen nicht durch eine Aufrechnung, sondern durch eine bessere Bilanzziehung aus ihren Vergehen das Herz, der Sinn, das Leben gewandelt und der Weg in den Himmel, in das Leben der Welt geöffnet". (Hervorh. kvk, 9-10)

Wie soll das gehen? Die Gutheit des Gottessohnes wirkt also quasi ansteckend und reinigend. Der Glaube an sich verändert und schafft Befreiung. Das Aufrechnen und die Bilanzziehung wird eher dem jüdischen Geist zugerechnet, während im Christentum der Glaube wie magisch ein "Freikommen" gewährleistet. Die Stichworte "Befreiung" und "Freikommen" tauchen hier auf, was einem Loskommen von der Bürde der Schuld und der Vergangenheit gleichkommt. Ich denke, dass Arthur Wilke die Rechtfertigungslehre von Jürgen Moltmann durchaus korrekt wiedergibt. Die geltende Parabel für dieses Vergebungsverständnis ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das häufig in Täterdokumenten auftaucht und mit dem Wilke seinen Absatz beendet:

"In der Liebe eines Vaters zu seinem Sohne geschieht es, dass der Vater dem Jüngeren beisteht, Fehler im Leben richtig zu erkennen und zu bewerten und dass er selbstverständlich die Schulden seines Sohnes ausbügelt, so gut er kann, wo jener sich in Unerfahrenheit verrechnet hat"! (Hervorh. kvk, 9-10)

Problematisch an dieser Gleichnisrezeption ist die Kennzeichnung der Motivation des verlorenen Sohnes, so als habe er sich aus "Unerfahrenheit" oder Naivität "verrechnet," und die Zuversicht, dass nichts geschehen sei, was der Vater nicht ausbügeln könnte. Was NS-Täter im allgemeinen an diesem Gleichnis besonders schätzten war die Verheißung des Vergessens, die in der väterlichen Annahme steckte. Sie hörten darin ein "Schwamm drüber", und die väterliche Versicherung, alle Schulden beheben zu wollen und den Sohn wieder aufzunehmen.

Eine Täterbiographie: Artur Wilke

Artur Fritz Wilke wurde 1910 in Hohensalza/Posen geboren und hatte evangelische Theologie in Erlangen und Greifswald studiert (er war Schlatter-Schüler), sowie Philosophie und Archäologie, bevor er 1931 der NSDAP beitrat. Er schied 1932 wieder aus der Partei aus und wurde mit seiner Burschenschaft Mitglied der SA. 1938 wurde er vom SD (Sicherheitspolizei) angeheuert und kletterte die Karriereleiter der SS hoch, in die er am 1. September 1939 offiziell eintrat. Als SS-Hauptsturmbannführer wurde er einem Einsatzkommando in Minsk in Weißrussland zugewiesen, wo er die Massentötungen von westlichen wie weißrussischen Juden in Minsker Ghettos überwachte. Er war auch in den Pripyet Sümpfen an der Partisanenbekämpfung beteiligt. Am 21. Mai 1963 wurde er vom Landgericht Koblenz für "sechs Massentötungen von Juden", deren Gesamtzahl vom Gericht auf 6.600 Menschen" geschätzt wurde (sie war in Wirklichkeit erheblich höher) zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das Gericht stellte fest, dass er in mehreren Fällen "Aufsichtsführender an der Grube" war und die Erschießungen leitete . Es wurde ihm attestiert, er böte "das Bild eines fanatischen, schwärmerischen Nationalisten, der durch die damaligen Machthaber in seinem irregeleiteten Idealismus missbraucht und ausgenutzt wurde" (313). Die Richter bemerkten lakonisch, dass Wilke "zu einem klaren und geraden Denken nicht in der Lage" sei (313). In der Tat zeichnet sich Wilkes Denken durch Widersprüche und wortgewaltige Unstimmigkeiten aus, die er in endlos langen Briefen und vermutlich ebenso langen Reden vor Gericht ausbreitete.

Das vorangegangene Zitat entstammt einem Brief, den Wilke zum siebzehnten Geburtstag seines Sohnes verfasste. Der Brief ist undatiert, aber der Sohn wurde 1963 konfirmiert, muss also 1966 17 Jahre alt gewesen sein. Außerdem besuchte Bischof Stempel, der EKD-Beauftragte für Kriegsverurteilte Wilke am 23. August 1966 und brachte ihm eine Vulgata mit. Der 77 Seiten lange, handgeschriebene Brief legt eine neue Matthäusauslegung aus Tätersicht vor und zitiert das Matthäusevangelium über weite Strecken aus der Vulgata auf lateinisch. Man muss sich also das Jahr 1966 oder 1967 vorstellen, in dem ein verurteilter NS-Täter seinem 17-jährigen Sohn "einen guten Brief als kleinen Ersatz dafür schreiben will, dass ich dir zu deinem Geburtstag nicht näher sein kann, wie Du und ich es wohl wünschen." (1) Zu diesem Brief muss auch noch gesagt werden, dass er sich im Original, mit einem Postskript an Professor Hermann Schlingensiepen versehen, im Schlingensiepen-Nachlass im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland in Düsseldorf befindet. Der Sohn hat ihn vermutlich nie erhalten.

Ich möchte Wilke beim Wort nehmen, wenn er sich zum evangelischen Glauben an Jesus Christus bekennt und behauptet, dass er eine wahre Bekehrung erfahren hat. Er zieht fünf Lehren aus seiner Erfahrung, die er seinem Sohn mitgeben möchte. Wilke ist es sehr wichtig, seinem siebzehnjährigen Sohn zu zeigen, dass er sich ernsthaft bemüht hat, die Fehler seines Lebens zu erkennen und zu bekennen:

"Verstehe Du, mein Junge, der Du um das ernste und tapfere Bemühen Deines Vaters um das Leben einiges weißt, dass uns die Wahrheit über den Fehler, für den wir einen so hohen Preis zu zahlen hatten, indessen andere mit 2 Gewissen profitierten, dass uns diese Wahrheit über den Fehler auch entsprechend Wert ist, wenn es auch nur der einzige und auch nur ein geistiger Wert ist, den ich auf das Habenskonto für euch bringen kann, und zwar so, daß Ihr nicht noch einmal für solche verbrecherischen Weisheiten töricht, gut und leichtgläubig zu bezahlen habt, weil auch Eure Lehrer nicht die besten waren -sie waren auch schon unsere!-und sich gegenseitig untereinander nicht trauen konnten!" (s. 72)

Beim ersten Lesen ist dieser Brief ein Zeugnis genuiner Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Wilke benutzt das Wort Fehler 83 mal in seinem Brief, das Wort "Sünde" taucht 30 mal auf, davon 15 weitere Male auf lateinisch als peccare/peccatum, von der "Schuld" spricht er 21 mal. Es ist ganz offensichtlich, dass er seinem Sohn zeigen möchte, dass er offen über die Fehler seiner Vergangenheit reden kann und dass er offensiv mit der Schuld in seinem Leben umgeht. Als Christ weiß er von der "Vergebung", ein Wort, das neunmal auftaucht und von der Versöhnung, die elfmal erwähnt wird. Aber wie sieht nun die "Wahrheit über den Fehler" aus?

Wilke zieht verschiedene Lehren aus seiner Vergangenheit, die aber jeweils auf typischen Täterkonstruktionen dieser Vergangenheit beruhen. Damit verbreitet er täterspezifische Fehlurteile und Misskonzeptionen, die den Nachkriegsdiskurs in Deutschland nachdrücklich bestimmten. Die sorgfältige Analyse solcher Dokumente ermöglicht einen Eindruck in die verworrenen Denkstrukturen, die sich zwar bemühten, den Eindruck von Offenherzigkeit und Wahrhaftigkeit zu erwecken, aber ganz der Leugnung und Widerrufung verhaftet blieben. Täterdokumente sind maßgeblich von solchen Vermeidungsstrategien bestimmt. Sie erschaffen Zerrbilder der Ereignisse und nehmen Leser für sich ein, indem die Realität der Opfer radikal ausgeblendet wird. Wilkes Verteidigungsargumente sind in Variationen allen Menschen der Nachkriegsjahre wohl bekannt. Sie sind so geläufig, dass sie normal und unausweichlich erscheinen.

Aber es ist wichtig, diese Gedankenwelt als eine spezifische, der Täterperspektive verpflichtete, Argumentationsstruktur zu erkennen, die letzten Endes dem Täterschutz dient. Das erste längere Zitat erschließt die Definition des Fehlers, dessen sich Wilke bezichtigt und den er bereut. Das zweite Zitat betrifft die Beschreibung des Judentums und Wilkes nachträgliche Sicht auf die Opfer. Die dritte Lehre aus der Vergangenheit missversteht und missrepräsentiert die Vergehen, für die Wilke verurteilt wurde. In der vierten Lehre geht es um die Gottesvorstellung, die Wilke nun anstelle des besiegten und deklassierten Nationalsozialismus setzt. Im fünften Zitat, in dem Wilke am nächsten an eine Beschreibung der Erschießungsaktionen, an denen er teilnahm, herankommt, stellt sich die Frage nach dem eigentlichen Gewaltopfer.

1. Die Fehldiagnose des Fehlers: "Laß Du Dich nicht missbrauchen!"

"Mach's gut, mein Junge: Erwarte nicht, wenn Du Dich Zeitgesetzen unterwirfst, daß diejenigen, die Dir diese Gesetze preisen und segnen, mit dir das geringste Mitleid und Erbarmen haben werden, wenn sie in ihren irrtümlichen falschen Gesetzen morgen unterliegen, ihr Spiel verspielen, wenn für sie die Stunde der Wahrheit eine ganz andere Wahrheit bereithält. Da werden sie dich opfern. Tu videris Das ist ihre Menschlichkeit, in der sie es wahrlich nicht weit gebracht haben. Tu videris! D.h. warum warst du so dumm! Sie werden sich rechtfertigen oder rückversichert haben und Du wirst erstaunt-sie auf Seiten der Sieger sehen! Mach's besser!" (14-15)

Die nachkriegsdeutsche Täterwelt ist von radikaler Subjektverleugnung geprägt. Jeglicher moralische Handlungsspielraum wurde geleugnet, NS-Täter präsentierten sich als Werkzeuge eines übermächtigen Regimes, dem sie nicht widerstehen konnten. Wilke empfindet sich als hilfloses und ohnmächtiges Opfer zweier übermächtiger Staatsführungen. Täter wollten lediglich Befehle befolgt haben, für die sie keine Verantwortung übernehmen wollten. Diese Selbstdarstellung wurde nicht nur von Mitgliedern der Einsatzkommandos, sondern maßgeblich schon von der Führungsriege, die in den Nürnberger Prozessen verurteilt, oder auch von Adolf Eichmann, dem in Israel der Prozess gemacht worden war, entwickelt. Nach 1945 waren alle gutgläubig missbraucht worden, nur ein Einziger Adolf Hitler, und in den späteren westdeutschen Prozessen drei, konnten als Haupttäter ermittelt werden (Hitler, Himmler, Heydrich). Die Haupttäter waren tot, die anderen waren nur noch Gehilfen.

Der Fehler, den Wilke bereut und aus dem er Lehren für seinen Sohn schmiedet, besteht also darin, der Obrigkeit und "falschen Lehrern" gefolgt zu sein. Er möchte nur seinen naiven Idealismus und seine Unter- und Einordnung in die Staats- und Volksgemeinschaft bereuen und beschränkt seine Handlungsfreiheit auf die eines Werkzeuges, eines willenlosen Rädchens im Getriebe. Seine Opferrolle wird bekräftigt, wo ihn die folgende Staatsregierung nun aus veränderten politischen Gründen zur Rechenschaft zieht ohne Eigenverantwortung zu übernehmen. Er wird (unschuldig?) verurteilt. Er wehrt sich vehement dagegen, als Verbrecher abgestempelt zu werden, da er ja, seiner Meinung nach, keine Gesetze gebrochen, sondern rechtmäßig erteilte Befehle ausgeführt hatte. Er gibt im Nachhinein zu, dass es sich um einen pervertierten Gesetzesrahmen gehandelt haben möge, aber er kann keine Reue für Taten entwickeln, die im Rahmen des Gesetzes begangen wurden. Wie die meisten Täter reagiert er zutiefst beleidigt, wo er auf die Stufe eines ordinären Verbrechers gestellt werden soll.

2. Antijudaismus: "Cavete a fermento Phariseorum!"

"Das ist innerlich derselbe Widerspruch, den wir offen erleben, wenn ein polnischer Bischof (Kardinal Wischinsky) über die Grenzen von Osten her zu den Deutschen spricht: "Wir vergeben!" und gleichzeitig vom Westen her der jüd. Rabbiner aus Holland verkündet: "Wir verzeihen und vergeben nicht!" In dem einen spricht als Messias Jesus von Nazareth, in dem anderen der nach einer upi-Meldung aus Jerusalem bereits geborene wahre Messias Uriel-Ben-David-Blau!

Und da wundert man sich über den Antisemitismus und was darin in 1900 Jahren geschehen ist! Da ergeht es dann wieder vielen Menschen, die guten Willens sind, wohl so, daß sie bisher wenig Verständnis für den Antisemitismus hatten, ihn gewinnen, weil ihnen ein tieferer Göttergrund dafür sichtbar wird, wie er über sie kommt! (37)

…Hinter der gegensätzlichen Behauptung zweier sich wesensfremder Messias (auf der einen Seite Jesus Christus-auf der anderen Seite Uriel ben David Blau, oder sind es noch mehr!) hinter den sich entgegenstehenden Überzeugungen des Kardinals Wischinsky und des Rabbiners in Amsterdam steht das entscheidende große Fragezeichen! Der Gedanke der dialektisch verbrämten juristischen Repressalie, der ununterbrochen fortgesetzten Wiedervergeltung führt doch zu einer immer weiteren Steigerung des Rachegefühls bis zu jener letzten Konsequenz, die ganz klar vorauszusehen ist. Ich glaube nicht, dass das der Geist ist, den Gottes Wille segnet". (74)

Die Feindbilder, die den Völkermord an den Juden legitimierten, bleiben hier fast ungebrochen bestehen. Zwar sind sich Täter in den sechziger Jahren bewusst, dass rassistischer Antisemitismus nicht mehr offen ausgesprochen werden darf, aber traditionelle Chiffren transportieren denselben Inhalt. Wilke spricht von den "Stammesbrüdern" Jesu von Nazareth, die ihn "bis heute ans Kreuz schlagen," (4) den Pharisäern und Schriftgelehrten, die das Wort verdrehen und die Gesetze schamlos zu ihrem Nutzen und Profit ausnutzen. Er mag von Juden nur noch in Code sprechen, aber seine Verachtung alles Jüdischen ist kaum gezähmt. Sie lugt hinter seinen Tiraden gegen "die Hass- und Rache- und Vergeltungsprediger" (47) hervor und spricht durch die antithetische Positionierung des Judentums als Gegenteil der christlichen Botschaft:

Empathie oder Mitgefühl für die Opfer seiner Gewalthandlungen kann in diesem Weltbild nicht aufkommen. Wilke bleibt davon überzeugt, dass eine ungeheure Gefahr von Kommunisten, Juden und Partisanen ausging, die nachhaltig-eben auch mit Gewalt-gebannt werden musste. Die Entmenschlichung der Feinde wird festgeschrieben und so wundert es nicht, dass Wilke an keiner Stelle über die Männer, Frauen und Kinder, die zu erschießen er mithalf, spricht. Wo er von "Partisanen" schreibt, da werden sie als Sadisten charakterisiert, die voller Heimtücke aus dem Hinterhalt agierten. Mit solchen Untermenschen durfte man kein Mitleid haben, die Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die von ihnen ausging, musste mit allen Mitteln bekämpft werden. Empathie mit den Opfern oder eine Einsicht in die Unrechtmäßigkeit der Gewalt ist nicht gegeben.

3. Krieg als Verbrechen: "Ne occides!"

"Jesus hat gesagt: Ne occides! Du sollst nicht töten! Er sagt damit: Um Gottes Willen zu tun, besteht keine Notwendigkeit für Euch zu töten. Als Befehl ist dieses Gebot gesetzt! Er hat nicht getötet bis an sein irdisches Ende. Er hat alles getan um von seiner Seite-auf der damals auch seine Schüler standen, wogegen seine Schriftgelehrten von heute sogar bereit zu einem Massenmorden sind, das die Verurteilten von gestern als Anfänger erscheinen lässt. (29)

...Es ist immer die schwerste, belastendste Frage in unserer Religionsgeschichte und Lebensgeschichte gewesen, ob man seine Feinde töten dürfe (langsam oder schnell, einzeln, zu zweien, dreien, usw.) ob man auf staatl. Befehl töten dürfe, ob die Glocken unserer Glaubenslehre bei dem Morden, bei dem Massenmorden läuten dürfen oder nicht. Wenn wir einmal von der gesamten europäischen Mordgeschichte nur die unserer Zeit betrachten, haben wir in der bejahenden Antwort diese theologische Gewissensfrage erlebt, daß im 1. Weltkrieg (mit "Gott mit uns" auf jeder Seite) 100 Millionen Christen auf der einen Seite (davon 40 Mill. Evangelische und ca 60 Millionen katholische Christen und 100 Millionen Christen auf der anderen Seite (davon ca 60 Mill. evangl. Und 40 Mill. kathol. Christen) sich gegenseitig, ohne daß ihnen ihr Gewissen Einhalt gebot, zu Millionen heimtückisch, brutal, erbarmungslos und gnadenlos, einzeln und in Haufen mordeten, sodaß am Ende ein schönes gottgewolltes Massengrab von 9.7 Millionen gezählter Toter stand-die "ausgehungerten" verhungerten deutschen Frauen und Kinder und Greise hat man nur schätzen können-ein ganz schönes Massengrab! Sodaß man nach den Voraussagen des Gottessohnes für ein solches Handeln im guten Glauben wohl zweifeln kann, ob diese Geister jemals auferstehen werden und das Himmelreich gewinnen können, und nicht viel mehr schon jetzt in die Hölle gefahren sind. Und sie haben auch sein Vorbild zum Nacheifern im 2. Weltkrieg, in dem wir dann erlebt haben, wieweit man in solcher gerechtfertigen Schlussfolgerung des Gedankens kommt, daß das gottgewollte Morden eine naturnotwendige ethische Not, die man nun mal auf sich nehmen müsse; dass das Morden Gottes Wille, Gesetz, Gericht und die Freiheit (Frieden und Gerechtigkeit) zu gewinnen und zu erhalten um Gerechtigkeit und politische Forderungen auf Erden herzustellen, dass es ein notwendiger Befehl sei, die Feindschaft in der Welt dadurch aufzuheben, dass man die Feinde tötet. An Ende standen wir dann vor den Massengräbern von 55 Millionen Toten! Die Steigerung beim 3. Mal, da ja alle guten Dinge drei sind!??? In beiden Massenmorden blieb das Morden Mord!" (30-31)

Hinter dieser pazifistischen Lehre, die aus der Vergangenheit gezogen wird, steckt eine weitere Tatverleugnung. Wilke möchte den Völkermord als Teil legitimer Kriegsführung verstanden wissen. Er scheut sich nicht, das Wort "Massenmord" zu diskutieren, ein Wort, das zehnmal in diesem Brief auftaucht, aber es bezieht sich in jedem Fall auf Kriegsführung und kein einziges Mal auf Völkermord. Indem jeder Krieg als Massenmord dargestellt wird, wird jeder Soldat als Instrument massenhaften Mordens unschuldiger Anderer missbraucht. Wilke stellt sich in die Tradition aller Soldaten, die auf Befehl töten mussten und schützt sich in der allgemeinen Fragwürdigkeit solcher Befehle vor der konkreten Frage seines Tuns. Er wurde ja nicht als Soldat verurteilt, sondern als SS-Mann. Diese Einzigartigkeit des Massenmords bleibt unerwähnt. Er erhebt den Pazifismus zum absoluten Gebot Gottes, was es ihm makabererweise erlaubt, sich aus der konkreten Verantwortung für Völkermord und das methodische Hinschlachten von Frauen, Kindern und Greisen zu entziehen.

Er wirft der Kirche die Tradition des Gerechten Krieges vor, weil sie, seiner Meinung nach, die moralische Verwirrung des kleinen Mannes mitzuverantworten hat. Die kirchliche Position, Gewaltanwendung im Falle der Selbstverteidigung zu legitimieren, ist ihm insbesondere in der zeitgenössischen Vorbereitung zum Nuklearkrieg im kalten Krieg eine Potenzierung des Massenmordes. Die kirchliche Lehre vom gerechten Krieg, mit der Kriterien entwickelt wurden, um rechtmäßige Gewaltanwendung von unrechtmäßiger zu unterscheiden, wird Wilke zur fragwürdigen Augenwischerei. Indem er das Tötungsverbot der zehn Gebote und der Bergpredigt universalisiert und verallgemeinert, verschwindet das konkret Anstößige seines Einsatzes. Wo jeder Krieg zum Massenmord ausartet, da wird das Besondere an Völkermord aufgelöst.

4. Gott als Führer: "Gottes Gebote haben keine Nach- und Nebensätze, kein Wenn und Aber, keinen Konjunktiv!"

"Das Wichtigste: halte dich an seine Gesetze und Weisungen, die dir den Weg weisen, den wir zu gehen haben! Dann wird Gott mit dir sein! Dass ER Dich nicht verlassen wird in Deinem ehrlichen Bemühen, darauf kannst Du dich verlassen. Verlass Du ihn nicht, indem Du dich verirren lässt von denen, die glauben, neben Gott noch rückversicherungshalber einige andere Götter haben zu können, neben Gott selbst selbstherrliche Gewalten, Götter spielen zu können, aber Gottes klares Wort nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, oder die glauben es besser zu machen zu können als ER, bessere Gesetzesmacher zu sein als ER. Unterscheide gewissenhaft zwischen Gottes Gesetzen und den Gesetzen in Ost und West, in denen sich jeder in seinem Rechte wähnt, die man aber wie einen amerikanischen Kaugummi ziehen kann, und die jeder nächste nachfolgenden Gott wieder ändern und aufheben kann, wie er will, ganz nach Belieben, wie er seine Macht und Tage zu sichern glaubt, aber in deren Auslegung und Anwendung sie sich untereinander nicht einmal einig werden können, wo man die Rechte studiert, weil es das einträglichste Geschäft wird zu wissen, wie man am besten durch alle diese Gesetze hindurch kommt aber andere darin hängen lässt!"

Hier ersetzt ein Absolutismus einen anderen: an die Stelle des Führers, dessen Wille absolut gültig war, tritt nun Gott. Das Bedürfnis nach Klarheit und Reinheit, nach Harmonie und absolutem Gehorsam bleibt bestehen. Das Führerprinzip ist ihm lieber als eine politisch-demokratische Rechtsfindung, die sich bestimmten, biblischen Prinzipien verpflichtet weiß, und diese in einem hermeneutisch reflektierten Prozess auslegt und anwendet. Er kritisiert die "Fragwürdigkeit" im demokratischen System: Wir malen und dichten, philosophieren, theologisieren, dialektisieren, judizieren und moralisieren nur noch im Fragwürdigen-könnte man meinen!" behauptet Wilke und meint damit das zeitgenössische Ringen um Wahrheit und politische (oder theologische) Meinungsbildung. Er sehnt sich nach klaren Hierarchien und ungefragter Unterordnung. Er rät seinem Sohn, sich aus der Politik herauszuziehen und stattdessen ganz auf Gott zu vertrauen.

Obwohl radikaler Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes auch die Widerständler in ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus nährte (z.B. Bonhoeffer), ist eine solche Gottesrede oft in einer anti-demokratischen Grundgesinnung verwurzelt. Auch Kirchenfunktionäre witterten im Nationalsozialismus menschliche Selbsterhebung und forderten Unterwerfung unter Gottes "klares Wort". Oftmals versteckt sich dahinter großes Misstrauen gegenüber demokratischer Wahrheitsfindung. Denn das Wort Gottes muss ja immer, wie zum Beispiel im vorher diskutieren Tötungsverbot, durch menschliche Auslegung gefiltert und in Auseinandersetzung mit der Tradition und der spezifischen (politischen) Situation entwickelt werden. Solche Auseinandersetzungen führen weniger zu zynischer Fragwürdigkeit als Forderungen nach absolutem Gehorsam-auch wenn das Heil Gottes dem Heil des Führers nun übergeordnet wird.

5. Der Täter als Opfer "Wie leicht ist es doch, über andere zu richten und ihr Leben preiszugeben (69)"

"Man kann wohl nur in juristischen Spitzfindigkeiten Mord und Totschlag, das Töten qualifizieren, Gradunterschiede darin herstellen! Im Grunde kommt es dabei nur darauf an, wie man den Pinsel schwingt und die Schreckensbilder in das Bild setzt,-- um einen komplizierten, einfachen Sterblichen nach seinem äußerlichen Verhalten in seiner seelischen Not, mit dem er seine innerliche Ratlosigkeit und Hilflosigkeit und alle Stimmen in sich überschrie und totschlug, das Beste in sich totschlug--, die ihn vergewaltigen und umzuwerfen drohten, die er mit unbegreiflichen Handlungen zu überwinden und zu überstehen suchte, um dabei nicht selbst mitzufallen vor einer Situation, in der man ihm das Töten befahl, suggerierte oder als ein Gutes und Notwendiges gab, dass man-um ein höheres Rechtsgut zu schützen -- seine Feinde töten müsse, um einen solchen Mann als einen bösen Exzesstäter zu beurteilten, zu richten und zu verdammen, in der gleichen Situation aber einen sachlichen kühlen Juristen ganz anders sehen kann, der von der gleichen Haltung und bürokratischen Selbstdisziplin "innerlich unberührt" davon blieb, kühl bis ans Herz hinaus (das liebste Lob eines jeden weisen Juristen), so unberührt von seinem heimtückischen und brutalen Töten, so über der Sache stehend, dass er schweigen kann, dass er sich an seine Kopfschüsse, die er getan hat, gar nicht mehr erinnern kann (oder zu gut?), der die Merkmale seines beherrschten kühlen Tötens von seiner Hand und aus seiner Vergangenheit wischt, dass er alles andere als die Wahrheit bekennt-indessen der andere Arme ehrlich (und was ist das für eine Reue!) gesteht: hier stehe ich! Ich konnte nicht anders! -- wobei es ihm damals wie jetzt das Herz zerreißt-(der eine der Starke! Der andere: der Schwache. Who is who?)" (32)

Wilke beschreibt die Erschießungen jüdischer Menschen an den Gruben in weißrussischen Wäldern an keiner anderen Stelle so ausführlich wie hier. Das Frappierende an dieser Stelle ist die Tatsache, dass das Objekt brutaler Tunwörter wie "vergewaltigen" und "totschlagen" nicht die Körper seiner jüdischen Opfer, sondern die Seele des Täters ist. In der Retrospektive fühlen sich die Vollstrecker des Völkermordes als Opfer ihrer eigenen Gewalttaten. Das innerliche Leiden der Täter überdeckt das reale, physische Grauen der Opfer, die auch Jahre später kaum in den Blick kommen. In dieser letzten Lehre aus der Vergangenheit wird deutlich, dass den Opfern keinerlei Realität im Selbstbild der Täter eingestanden wird. Ihre Vernichtung ist total, da ihre Nichtigkeit immer wieder in Worten reinszeniert wird.

Rechtfertigung und Täterrealität

Die evangelische Rechtfertigungslehre suggeriert eine fast magisch anmutende Befreiung von der Schuld, die der Realität der Zerrbilder und Vermeidungsstrategien, die wir hier am Originalton eines weitgehend unbekannten, verurteilten NS-Täters festgestellt haben, nicht gerecht wird. Es geht mir bei dieser ausführlichen Analyse nicht darum, Wilke zu verurteilen, sondern darum, auf die nachhaltige Macht der Ideologien und Strukturen, in die ausführende Organe eines Völkermordes verstrickt sind, hinzuweisen. Die planmäßige "Vernichtung" des europäischen Judentums stellt ein Trauma dar, aus dessen Verstrickung auch eine wahrhaftig erlebte Glaubenserfahrung nicht retten kann. Die Behauptung, eine solche Schuld könnte getilgt oder dem Täter könnte eine Neugeburt ohne belastende Vergangenheit versprochen werden, führt zwangsläufig zu Bonhoeffers "billiger Gnade."

Wilke missversteht die Schuldvergebung als Erlaubnis, das Vergangene hinter sich zu lassen, obwohl er mit jeder Faser seines Wesens in dieser Vergangenheit verhaftet bleibt. Er zitiert Johannes, wo "Jesus ... zu der Frau, die ein großes, lebenswichtiges Gebot vergessen und etwas sehr Böses getan hatte (Joh 7) [sagte]: "Ne ego te condemnabo: vade, et iam amblius noli peccare!" Ich will dich nicht verdammen: geh hin und vermeide weitere Fehler!" (6). Aber er selber kann seinen jugendlichen Enthusiasmus, seine leidenschaftliche Hingabe an Führer und Vaterland nicht wirklich hinter sich lassen. Im Kontext von Staatsverbrechen, wie Völkermord, verfehlt die individuell angelegte christliche Vergebungsbotschaft das eigentliche Thema. Sie suggeriert eine Befreiung von der Last der Schuld und ein Ende der Vergangenheit, die für Wilke auch zwanzig Jahre nach Ende der Kriegshandlungen nicht realistisch ist. Ich schlage deshalb vor, von Vergebung nicht als Entlassung aus der Vergangenheit, als einer Aufhebung der Schuld oder einem Freikommen von der Erinnerung zu sprechen. Sondern es geht doch eher darum, einen Mann wie Wilke dazu zu ermächtigen, seine Schuld angemessen zu erkennen und zu tragen. Was sein Sohn wohl erwartet hätte, wäre einen Vater, der auch nur an einer Stelle dieses langen Briefes Mitgefühl für die Opfer hätte durchscheinen lassen. Man will und kann Wilke nur dort Respekt zollen, wo er bereit ist, das Grauen zuzulassen und auszuhalten. Aber Wilke kann sich zu seinem Judenhass nicht stellen und nicht zugeben, dass er willig und aus Überzeugung an ihrer Ermordung teilnahm. Mit anderen Worten, die Gnade des barmherzigen Gottes besteht nicht darin, den abtrünnigen Sohn willkommen zu heißen, indem die Vergangenheit vergeben und vergessen wird, sondern darin, ihm ein Leben im Angesicht und in der Verantwortung für diese Vergangenheit zu ermöglichen.

Das Kainsmal als Gnade der Erinnerung

Es gibt in der hebräischen Bibel vier Metaphern für Schuld und Vergebung. Man kann sich die Schuld als eine Bürde vorstellen, die auch einem anderen, zum Beispiel einem Sündenbock, aufgebürdet und übertragen werden kann. Gott kann die Schuld eines Missetäters zweitens "bedecken" oder drittens auch "tilgen". Die vierte Vorstellung kommt aus dem Schuldnerwesen, und man kann sich Vergebung als das Erlassen einer Geldschuld vorstellen. In der biblischen Vorstellungswelt wird Schuld oft als Verunreinigung verstanden, die weggewischt, getilgt oder "reingewaschen" werden kann: (Psalm 51, 9;11) "die Idee der Sünde als eines Schandflecks und der Reinigung und Sühne als eine Beseitigung dieses Blutmals formen den Bildhintergrund der Bibel" (2002, 185) .Sühne und Versöhnung werden dann als ein Reinigungsritual verstanden, wobei das Blut eines unschuldigen Opfers das Schandmal wegwaschen kann. Der israelische Philosoph Avishai Margalit analysiert diese vier verschiedenen biblischen Vergebungsbegriffe in The Ethics of Memory und kritisiert diese Reinigungsvorstellung der Versöhnung als "religiös" und "magisch", weil sie eine "totale Tilgung" und " absolute Auslöschung der bösen Untat" verspricht. (197) Stattdessen zieht er biblische Begriffe wie "bedecken" und "ausstreichen" vor, da sie keine "magische" Beseitigung oder Löschung der Vergangenheit beinhaltet.

"Ich argumentiere, dass das Bild des "Bedeckens" [der Sünde] konzeptionell, psychologisch und moralisch dem Begriff des "Tilgens" vorzuziehen ist-d.h. es ist besser, die Erinnerungen an eine Missetat zu bedecken als sie zu löschen. In Kürze, ich werde demonstrieren, dass Vergebung auf einem Übersehen der Übertretung basiert und nicht auf ihrem Vergessen." (197)

Margalits Vergebungsverständnis als "Bedecken" und "Wegwischen" wurzelt im hebräischen Begriff des kipper, das sowohl bedecken wie versöhnen bedeutet und aus dem der Versöhnungstag Jom Kippur abgeleitet ist. Nach jüdischem Verständnis besteht t'shuvah in einer Rückkehr zu Gott und Gerechtigkeit, die keine Auslöschung der Erinnerung abnötigt. Reue und Bußfertigkeit sind, nach Margalit's Überzeugung, ein "nicht-magischer Weg, die Vergangenheit zu widerrufen" (199). Ein Täter, der umkehrt, verändert seine Einstellung zur Vergangenheit und zeigt mit seiner Reuefähigkeit, dass er nicht grundsätzlich böse ist, auch wenn die Tat, die er begangen hat, verabscheuungswürdig war. Deshalb kann man einem Übeltäter verzeihen, auch wenn man das Delikt nicht vergessen kann...Vergebung ist nicht gleichbedeutend mit Sündentilgung" (200).

Das Kainsmal scheint mir ein anderes Modell göttlicher Gnade im Leben eines Täters vorzuführen, das ebenfalls Vergebung nicht als Schuldentilgung und Vergessen, sondern als ehrliche und respekteinflössende Annahme der Vergangenheit beschreibt. Das Kainsmal ist kein Schandmal, sondern ein Schutzmal, das es Kain erlauben soll, mit der Erinnerung an den Brudermord leben zu lernen. Dieses Mal kann nicht mit einem Sühneopfer weggewaschen werden, da es gleichzeitig Schutz verheißt.

Das Kainsmal wird landläufig als Strafe missinterpretiert oder als eine Art permanentes Stigma und Schandmal. Es wird als göttliche Aufforderung zur Ächtung und Demütigung verstanden, als Fluch, der Kain ins Exil folgt. Verstanden als Stigma hatte die Geschichte des Kainsmals eine grausame und repressive Vergangenheit. Seit Augustinus wurde die Kainsgeschichte als Paradigma des jüdischen Schicksals in der christlichen Welt verstanden. Die Synagoge hatte als älterer Bruder den unschuldigen Gottessohn ermordet und sollte nun, mit dem Mal gezeichnet, die Heimat verlieren und als ewig wandernder Jude durch die christlichen Lande ziehen, einer ewigen (gottgewollten) Deklassierung und Diffamierung ausgesetzt. Diese problematische und gefährliche Auslegungsgeschichte soll hier nicht vergessen werden.

Aber in der Genesisgeschichte ist das Kainsmal getrennt von der Strafe. Kain wird dreifach bestraft: er verliert seinen Beruf als Farmer, da die Erde ihm die Früchte verweigert. Er verliert seine Familie, Ursprungsgemeinschaft und Heimat und muss sich auf ein wurzelloses Leben im Land Nod , d.h. auf der Wanderschaft, einlassen. Er verwirkt eine unmittelbare Beziehung zu Gott. Diese dreifache Bestrafung entzieht ihm die unsichtbaren Sicherheitsnetze, die ihn in privilegierter Unwissenheit und vermeintlicher Unverletzlichkeit gefestigt haben. Er ist auf sich allein gestellt und muss lernen, ohne das Sicherheitsnetz, das seine Handlungsfähigkeit und seinen Gewaltakt ermöglicht hat, zu leben. Aber das Gottesmal ist als ein Zeichen der Gnade gegeben, das ihn in dieser neuen Verletzlichkeit trägt. Es ist nicht ein Schandmal, sondern sichtbares Zeichen einer Aufgabe und Verpflichtung.

Systematische Ungerechtigkeit schafft dauerhafte Privilegien, Profite und Vorteile für die Täter, während sie langfristige Nachteile, Schäden und Nöte im Leben der Opfer hinterlässt. Der Holocaust hat nicht nur sechs Millionen jüdischen Menschen das Leben genommen, sondern ihre Kulturen und Traditionen vernichtet. Ihr Eigentum wurde systematisch umverteilt, woraus nicht nur die Täter, sondern auch ihre Kinder und Kindeskinder noch Vorteile erzielen. Das Kainsmal kann den langwierigen, verbindlichen Abbau jener psychologischen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Privilegien umschreiben. Es ist der Abbau der ungerechten Erträge der Gewalt, durch den eine Täterkultur ihre Umkehr vom Unrecht signalisiert. Claudia Card ist eine der wenigen politisch-progressiven Philosophinnen, die argumentiert, dass man unter "Vergebung" keine Gewissensentlastung verstehen sollte, sondern eine Aufgabe und Bürde. Den Tätern, so schreibt sie, erwächst aus ihrer Schuld an den Opfern eine Verpflichtung, aus der sie sich nicht selbst befreien können. Die Macht, die Täter aus der Verpflichtung zu entlassen, gehört ausschließlich den Opfern. Die Bürde der Schuld, die sich die Täter aufgelastet haben, so behauptet die analytische Philosophin, sollte nicht negativ gesehen werden. Diese Last ist nicht bedrückend und lähmend, sondern erschließt den Tätern in verantwortlicher Annahme eine neue Zukunft:

"Wir stellen uns unter einer Bürde natürlich etwas Belastendes vor, was so schnell wie möglich beseitigt werden sollte, da es schwer ist und uns bedrückt. Aber Bürden müssen nicht nur herunterziehen. Wer eine Bürde gut trägt baut Kraft auf, was dazu beiträgt, den Respekt Anderer neu oder wieder zu gewinnen und Selbstbewusstsein neu oder wieder zu entwickeln."

Man könnte das Kainsmal als ein Zeichen der Bürde verstehen, die verantwortlich, kreativ und produktiv getragen werden muss. Das Auf-sich-Nehmen des Kainsmals erschließt Menschenwürde und bewirkt Gerechtigkeit. Es bezeichnet ein ausdauerndes, verbindliches Reformstreben, das die Beziehungen zwischen Täter und Opfer nachhaltig erneuert. Die Sündenvergebung wird dann nicht das Resultat der Begegnung mit einem raum- und zeitlosen Gott verstanden, sondern als das tastende Zugehen auf den entrechteten und machtlosen Anderen. Eine so verstandene Vergebung sieht sich dem Abbau ungerechter Privilegien, dem Ausgleich einseitiger Machtgefälle und dem Heilen gebrochener Beziehungen verpflichtet. Das Kainsmal ist kein einmaliges Vergebungserleben, sondern ein dauerhafter Vorgang, der sich über die Zeitzeugengeneration hinaus erstreckt und Kinder und Kindeskinder mit einschließt. Nicht Entlastung, sondern die willig aufgenommene, aus Unrecht erwachsene Verpflichtung ermöglicht erst den aufrechten Gang.

Die im Nachkriegsdeutschland praktizierte evangelische Rechterfertigungslehre versprach eine Absolution der Sünden (Plural) als Sofortentlastung und Totalbefreiung. Grundsätzlich wurde von neugläubigen NS-Tätern selten erwartet, dass sich die im Ritual der stellvertretenden Sühne Christi vollzogene Versöhnung in konkreten Gesten gegenüber den ehemaligen Opfern manifestierte: weder die Bitte um Vergebung, noch persönliche Entschädigungsakte oder Wiedergutmachungsgesten gehörten zum Rüstzeug christlicher Vergebungspraxis. Stattdessen reihte sich die christliche Sündenvergebung ins Arsenal der Verdrängungsstrategien ein, mit denen sich NS-Täter aus den Verstrickungen ihrer Vergangenheit befreien wollten.

Vortrag, gehalten auf einer Tagung der Ev. Akademie Arnoldshain, November 2007

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