Von der fleischlosen Liebe
Zur Enzyklika über die christliche Hoffnung
von Klaus-Peter Lehmann


Der Horizont

In seiner letzten Enzyklika über Glaube und Hoffnung (1) hat der Papst versucht, "die wahre Gestalt der christlichen Hoffnung" darzustellen und gegen säkularisierte Formen von Hoffnung abzugrenzen. Der Bogen, den er dabei spannt, legt sich über die gesamte Geschichte der Kirche. Ausgehend vom Neuen Testament wird der Bruch zwischen Scholastik und Reformation zu einem Wendepunkt, dessen negative Folgen, Aufklärung und Säkularisierung, bis heute wirksam sind. Evangelische Christen sollten diese Enzyklika aufmerksam zur Kenntnis nehmen. Nicht nur wegen der scholastischen Gestalt, die katholische Hoffnung hier annimmt, sonders auch weil der Papst offensichtlich in der reformatorischen Theologie Luthers die Quelle für die Übel der Neuzeit sieht. Außerdem macht die Verlautbarung deutlich, wie spröde christliche Hoffnung bleibt, die die jüdische Diesseitigkeit des Alten Testamentes ignoriert, statt sich darin zu verankern.

Die Glaubenshoffnung: scholastischer Besitz oder reformatorische Zuversicht

Im Brennpunkt der päpstlichen Überlegungen steht die Auslegung der ersten Sätze von Kap. 11 des Hebräerbriefes. Manche sehen hier eine Art Definition dessen, was Glaube ist. An der Übersetzung von Luther: "Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet. Und nicht zweifeln an dem, das man nicht siehet" moniert Benedikt den Subjektivismus. (2) er orientiert sich am lateinischen Text, der anstelle von Zuversicht und Nichtzweifeln Substanz (substantia) und Beweis (argumentum) aussage, also objektives Sein und nicht nur subjektives Fürwahrhalten. (3) Darin sieht Benedikt den großen Abfall von der Objektivität des Glaubens als "Habitus" und "dauernde Verfasstheit des Geistes" in eine seiner Ansicht nach haltlose Subjektivität. Hier sollten protestantische Christen einbringen, was reformatorische Entdeckung genannt wird: dass Glaube nämlich Vertrauen auf das göttliche Wort der Verheißung ist, auf ein Versprechen (promissio). Jenseits der Verlässlichkeit des Versprechens gibt es kein Sein, in dem sich Gott oder der Glaube zeigt (sola fide). Glaube ist reine Wortbeziehung, die sich jeder Verdinglichung entzieht. Katholische Theologie will immer mehr als die gewisse Zuversicht, nämlich eine objektivierbare Qualität des Glaubens, den Glaubensbesitz.

Der Abfall in Subjektivismus und Diesseitigkeit

Seit der Reformation habe der Glaube und das Denken außerhalb der katholischen Kirche, so Benedikt, die Sicherheit, die eine Orientierung an einem objektiven Halt gibt, verloren. Das Neue Testament verkünde "eine neue Gewissheit... den Glauben als Substanz der Hoffnung." (4) Von dieser Objektivität des Glaubens, an der allein die katholische Kirche noch festhalte , sei der Strom des neuzeitlichen Denkens über Reformation, Aufklärung und Marxismus abgefallen. Individualismus und Verselbständigung der Vernunft habe in den säkularen Irrweg der Moderne geführt, der "die Hoffnung auf das Reich Gottes abgelöst habe durch die Hoffnung auf das Reich der Menschen, die bessere Welt." (5) Doch feiert in dieser Entgegensetzung von Reich Gottes und gerechter Menschenwelt nicht der traditionelle spiritualistische Irrweg der Verkündigung fröhliche Urständ, der mitverantwortlich zeichnet für die neuzeitlichen Spaltungen und Abwendungen von der Kirche?

Zu Reformation, Aufklärung und Marxismus

Anders als Benedikt es sieht, der mit dem behaupteten fundamentalen Wahrheitsbesitz ein System rechtfertigt, das die glaubende Person entmündigt, lassen sich die Emanzipationbewegungen der Neuzeit als Erinnerung an den mündigen Menschen unter der biblischen Trias Glaube, Liebe, Hoffnung lesen.

Die Reformation war eine Emanzipation des glaubenden Individuums. Gerade die Reduktion des Glaubens auf die durch das Wort geschaffene Beziehung befreit das Denken von Gott und vom Menschen aus jeder seinsmäßigen Abhängigkeit und behauptet Gottes Treue und des Menschen Vertrauen jenseits alles Beweisbaren. Denn der Beweis der Hoffnung, auf den Benedikt in seiner Auslegung von Hebr. 11 solchen Wert legt, zerstört, was er zu befestigen vorgibt. Ein Beweis für Vertrauenswürdigkeit wäre das Begräbnis des Vertrauens und die Ermächtigung der Kirche zu einer Glaubensbehörde. Auch im Judentum gründet sich aller Glaube auf die Treue (ämunah) des Wortes, dem die Gemeinde mit dem Bekenntnis ihres Vertrauens (Amen) antwortet. (6)

Die Aufklärung im Sinne Kants war eine Emanzipation des ethischen Individuums. In der Stimme des Gewissens sah er eine metaphysische Realität, deren Forderung der Mensch sich zwar entziehen könne, aber nicht ohne Gewissensbisse. Seine Autonomie könne er nur verwirklichen, indem er jeden Menschen als Zweck für sich respektiere und ihm dementsprechend wohlwollend Gutes tue. Im Gebot der Nächstenliebe sei dieser Imperativ der Vernunft optimal zusammengefasst. Deshalb habe der Mensch um der Menschheit willen "nach der Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen" zu trachten. "Das Reich der Tugend" sah Kant als "die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden" (7) Für Kant war dieser Imperativ jenseits aller Beweisbarkeit einfach moralisch evident. Wohl deshalb vernimmt das aufgeklärte Judentum in seiner Philosophie ein Echo der Stimme vom Sinai. (8)

Der Marxismus und die mit ihm verbundene Hoffnung auf eine Gesellschaft ohne Herrschaft des Menschen über den Menschen erinnert an die biblische Hoffnung von der Auferstehung des Fleisches. In ihrer ganzen Geschichte bis heute hat es die Kirche versäumt, "die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen." (9) Das setzt sich auch in der Enzyklika fort. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit wird zwar angesprochen. Doch es bleibt bei der Betonung des Vorrangs der Bekehrung der menschlichen Seele vor jeder Strukturveränderung. Von einer ethischen Dringlichkeit oder moralischen Unruhe, was die Lösung der sozialen Frage angeht, ist nichts zu verspüren. (10) Wie fixiert erscheint der Blick auf das Problem: "Der Mensch kann nie einfach nur von außen erlöst werden... Nicht die Wissenschaft erlöst den Menschen. Erlöst wird der Mensch durch die Liebe. (11) Aber die Frage, welche Strukturveränderung eine von der Nächstenliebe geleitete soziale Wissenschaft und Politik als Lösung für das weltweite Problem der Armut aufgreifen und anpacken müsste, wird nicht einmal aufgeworfen. Auch bezüglich der Hoffnung verlässt die Enzyklika die biblisch-jüdische Tradition, das Vertrauen auf seine Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt (Jes 65,17; 2 Petr 3,13). (12)

Die Ausdünnung der Hoffnung beim Abschneiden der jüdischen Wurzel

Überrascht es, dass eine Enzyklika zur christlichen Hoffnung die alttestamentliche Verheißung eines nach den Geboten der Tora gerechten menschlichen Zusammenlebens und einer friedlichen Versöhnung der Völker nicht erwähnt? (13) Entsprechend dünn bleibt die "wahre Gestalt der christlichen Hoffnung." (14) Wenn wir mit dem in Beziehung sind, der nicht stirbt, der das Leben selber ist, dann sind wir im Leben." (15) Das Land, wo Gerechtigkeit und Friede sich küssen (Ps 85,11), wo sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden (Jes 2,4) und wo der Löwe Stroh fressen wird wie das Rind (Jes 11,7), spielen für den Papst im Kontakt der Menschen mit der unbedingten Liebe keine Rolle mehr. Es ist wie eine Welt abseits oder jenseits gerechter Weltstrukturen. Diese Liebe jenseits aller Weltzustände ist offenbar die "neue Gewissheit", die "Substanz des Kommenden," (16) die das Neue Testament mit Jesus Christus verkündet. Ewiges Leben ist "der Augenblick des Eintauchens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Nachher mehr gibt." Es handelt sich um ein immer neues Eintauchen in die Weite des Seins, in dem wir einfach von der Freude überwältigt werden." (17) Mit dieser geschichtslosen Gestalt der christlichen Hoffnung verlässt die Enzyklika die jüdische Wurzel, die prophetische Geschichte Israels mit ihren konkreten, fleischlichen, menschlich gemeinschaftlichen Verheißungen, wo die Erlösung der Menschheit Gerechtigkeit und Friede für alle ist.

Der Papst transformiert die biblische Liebe zu einer reinen Erfahrungsqualität, der das ethische Wollen fehlt. Die Liebe ist aber evangelischer Zuspruch und des Gesetzes Erfüllung (Röm 13,10). Sie drängt also aus ihrem Wesen heraus auf die gerechte Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen. "Glauben aber heißt, die Liebe Gottes als die einzig denkbare Weltverfassung bejahen, trotzdem der uns allein bekannte Weltzustand uns in ausgesprochenster Weise als Nicht-Liebe gegenübersteht." (18)

Die neue Substanz: Liebe ohne Fleisch

Die neue Enzyklika wähnt die katholische Kirche im alleinigen Besitz wahrer Hoffnung. Sie bewertet nicht nur die Hoffnungen der aufgeklärten Weltanschauungen rein defizitär, sondern auch die der evangelisch reformatorischen Kirchen. Von letzteren habe das Übel einer rein subjektivistischen Hoffnung seinen Ausgang genommen. Außerdem glaubt die Enzyklika in der biblischen Begründung ihrer "neuen" Hoffnung auf das Alte Testament, die jüdische Wurzel, verzichten zu können. Letztlich fällt auch der jüdische Glaube unter das Verdikt des Subjektivismus. Denn erst "im Neuen Testament gewinnt das Warten auf Gott... Substanz." (19) Die Botschaft ist eindeutig: Die Hoffnung auf die erlösende Kraft der Liebe sei ausschließlich in der katholischen Kirche zu Hause.

Die Enzyklika unterschlägt die ethische, auf Weltveränderung zielende Kraft der Nächstenliebe, die vom Judentum entdeckt und von Kant neu formuliert wurde. Sie übersieht, dass die aus der Gotteserkenntnis fließende Spontaneität der Liebe als des Gesetzes Erfüllung von der Reformation betont wurde. Sie zeigt sich blind dafür, dass die in Teilen der sozialistischen Bewegung lebendige Vorstellung von gesellschaftlicher Gerechtigkeit an die diesseitige Lebensfülle der biblischen Verheißungen erinnert. Wer diese an die vollkommene Gerechtigkeit der jüdisch-prophetischen Utopie erinnernden Aspekte ausblendet, behält ein spirituelles Gerippe in der Hand, eine Liebe ohne Fleisch.


(1) Enzyklika SPE SALVI von Papst Benedikt XVI., 30. November 2007.
(2) Auch die Einheitsübersetzung ist ihm nicht katholisch genug.
(3) Weder der griechische Text noch die lateinische Fassung rechtfertigen diese philosophische Festlegung.
(4) Enzyklika Abschnitt 10.
(5) Enzyklika Abschnitt 30.
(6) "In der Schrift ist die Verbindung Gottes mit der Wahrheit von durchgängigem Gebrauche. Freilich hat das Wort in der biblischen Religion nicht einen philosophischen Sinn." (H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 477.
(7) Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, Kant Werke VIII, S. 751ff.
(8) "The prophets of Israel established a new principle, the fundamental truth of 'thy other'. Kant's famous Categorical Imperative is only a derivative from this principle." (L. Baeck, The Interrelation of Judaism and Ethics, Werke 5, S. 134). S.a. ders., a.a.O., S. 348: "Das ist der prophetische Stil: die Utopie als Forderung, als Gebot.").
(9) Das Darmstädter Wort, Ein Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes vom 8. August 1947.
(10) Auch nicht in den evangelischen Kirchen. Da gibt es nur ungehörte Einzelstimmen, wie die von D. Bonhoeffer: "Es gibt nun einmal Dinge, für die es sich lohnt kompromisslos einzutreten. Und mir scheint der Friede und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus, sei so etwas." (DBW 13, S.272f).
(11) Enzyklika Abschnitt 26.
(12) "Das Reich Gottes ist die sittliche, ideale Wirklichkeit, die der Mensch schaffen soll." (L. Baeck, Das Wesen des Judentums, S. 138).
(13) Die Enzyklika setzt bei ihrer Beschreibung dessen, was Glaube bzw. Hoffnung ist, unvermittelt mit dem Neuen Testament ein und beschreibt seine Botschaft in Abgrenzung gegen das jüdische Hoffen, das nur gelebte Haltung sei, als "eine neue Gewissheit", weil sie in Christus "Substanz" bekommen hat. (Enzyklika Abschnitt 9).
(14) Enzyklika Abschnitte 24-31.
(15) Enzyklika Abschnitt 27.
(16) Enzyklika Abschnitt 9.
(17) Enzyklika Abschnitt 12.

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