Und dennoch kehrte er zurück
Zum 30. Todestag des Sozialpädagogen Berthold Simonsohn
von Wilma Aden-Grossmann

Am 8. Januar 1978 starb Berthold Simonsohn, Ordinarius für Sozialpädagogik und Jugendrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, nur wenige Monate nach seiner Emeritierung im Alter von 65 Jahren. Bereits zwei Tage später fand auf dem Frankfurter Hauptfriedhof die Trauerfeier statt, an der Gelehrte und Studenten, Gemeindemitglieder und Repräsentanten von Universitäten, Christen, Juden und andere teilnahmen. Der Präsident der Goethe-Universität, Hans-Jürgen Krupp, sprach davon, dass Simonsohn in beispielgebender Weise wissenschaftliches, pädagogisches und soziales Engagement verkörperte und dadurch hohes Ansehen genoss. Die Ernsthaftigkeit seines Engagements "schien geprägt von den Erfahrungen eines deutschen Juden, der trotz aller grauenhafter Erlebnisse nicht aufgab, in diesem Land gegen Unrecht zu kämpfen." Die Universität Frankfurt gedenke, so der Präsident, eines Mannes, für den die Lösung sozialer Probleme in gleicher Weise Aufgabe des Wissenschaftlers wie des konkret tätigen Sozialpolitikers gewesen seien. "Wir danken einem Hochschullehrer, der trotz oder gerade wegen der eigenen erschütternden Erfahrungen auch später nie kapitulierte, sondern in allen, auch noch so harten Auseinandersetzungen Vernunft gegen Irrationalität setzte und die Verständigung suchte."

Max Willner, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, hob hervor, dass Simonsohn die Kontinuität der jüdischen Sozialarbeit gewährleistet habe: "Von der Hilfe für die Verfolgten eines Unrechtsstaates bis zur Herstellung der Menschenwürde für die Überlebenden des Terrors spannt sich der Bogen seines Lebenswerkes. Berthold Simonsohns Leitmotiv der Zedaka wird auch weiterhin für die Zentralwohlfahrtsstelle Verpflichtung sein."

Zwei Jahre nach seinem Tod wurde an der Hebräischen Universität eine Berthold-Simonsohn-Gedächtnisstiftung errichtet, die jährlich zwei Stipendien an Studierende im Fachgebiet Sozialpädagogik vergibt. An der Einweihung der Stiftung im Mai 1980 nahmen viele Freunde und Kollegen Berthold Simonsohns aus Israel und aus Deutschland teil. Jacob Katz, emeritierter Professor für jüdische Geschichte Zentraleuropas und früherer Rektor der Hebräischen Universität, wies darauf hin, dass Simonsohn, der selbst unter Nationalsozialisten schwer gelitten hatte, die Brücke zwischen Deutschen und Juden schlug. Simonsohn sei eine ungewöhnliche Persönlichkeit gewesen, ein bescheidener Mensch und ein großer Lehrer. Die Einrichtung dieser Stiftung zeige den Willen, "den Namen eines großen Mannes zu bewahren".

Verhaftung und Deportation

Berthold Simonsohn wurde 1912, also noch zur Kaiserzeit, in Bernburg an der Saale geboren und erlebte als Heranwachsender die turbulente Zeit der ersten deutschen Demokratie, die Weimarer Republik. Als Hitler die Macht übernommen hatte, war Berthold Simonsohn knapp 21 Jahre alt, ein sehr begabter junger Mann und ein herausragender Student mit vielseitigen Interessen. Er wurde schon 1933 als Sozialist und Jude in eine gesellschaftliche Randposition gedrängt und verfolgt. Dennoch hatte er in dieser, wie auch in allen späteren Situationen, die Kraft zum Handeln, war nicht nur Opfer, sondern setzte sich zur Wehr. Er engagierte sich im Widerstand der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland. Die Gruppe, die in Anhalt und an den Universitäten Halle und Leipzig aktiv war, wurde entdeckt und sein Bruder in Bernburg verhaftet. Von der Mutter gewarnt, konnte Berthold Simonsohn, der in Halle studierte, das "verdächtige Material" noch rechtzeitig beseitigen. Er wurde wegen des Verdachts des Landesverrats zwar ebenfalls verhaftet, da ihm aber nichts nachzuweisen war, nach drei Tagen wieder frei gelassen.

Als Jude wurde er zum juristischen Staatsexamen nicht zugelassen, jedoch war es ihm trotz großer finanzieller Schwierigkeiten noch möglich, das Studium mit der Promotion in Jura 1934 abzuschließen.

Nach Abschluss seines Studiums kehrte Simonsohn in seine Heimatstadt zurück, da "angesichts der politischen Entwicklung an eine wissenschaftliche Laufbahn nicht zu denken war". Dort stand er sowohl infolge der früheren Verhaftung wie auch als Jude unter ständiger Beobachtung durch die Nationalsozialisten. Er übernahm die Geschäftsführung in der Kunstblumenfabrik des schon alten und kranken Vaters, deren Niedergang aufgrund des Boykotts jüdischer Geschäfte und Unternehmen nicht aufzuhalten war.

Obgleich er hätte emigrieren können, blieb er in Erfüllung seiner "Sohnespflicht" in Deutschland. 1938 wurde er in Hamburg Bezirksfürsorger für Nordwestdeutschland bei der Reichsvereinigung der deutschen Juden, um zu helfen, bis er schließlich selbst 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Aber auch im Ghetto Theresienstadt war er politisch im jüdischen Jugendverband, dem Hechaluz, tätig, hielt im Rahmen des illegalen Bildungswesens zahlreiche Vorträge für Jugendliche und arbeitete schließlich als stellvertretender Leiter der Jugendfürsorge.

Im Ghetto hatte er auch seine spätere Frau Trude Guttmann kennen gelernt, die im tschechischen Widerstand der zionistischen Jugendbewegung engagiert war und aus diesem Grunde eine mehrmonatige Gefängnisstrafe, zum Teil in Einzelhaft, erleiden musste, bevor sie nach Theresienstadt deportiert wurde.

Als Berthold Simonsohn am 19. Oktober 1944 für einen Transport in den Osten vorgesehen war, wollte Trude Guttmann nicht alleine in Theresienstadt zurück bleiben und meldete sich für den gleichen Transport. Ziel war das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie am 22. Oktober ankamen. Trude Guttmann kam nach einigen Tagen in ein kleines Lager bei Breslau und überlebte den Holocaust. Berthold Simonsohn dagegen wurde weiter deportiert nach Kaufering. Über die Fahrt von Auschwitz nach Kaufering schrieb Berthold Simonsohn: "Ich kam 4 Tage danach, nach einer qualvollen Fahrt, in einem Güterwagen mit 70 vor Hunger fast rasenden Menschen zusammengesperrt, in das Lager Kaufering III, einem Außenlager von Dachau."

Trotz schwerster Zwangsarbeit bei völlig unzureichender Ernährung und großer Kälte in den kaum beheizten Unterkünften überlebte er. Bei dem Herannahen der amerikanischen Truppen mussten die Häftlinge einen dreitägigen Marsch nach Dachau-Allach antreten. "Am 30. April nach bangen Stunden die Befreiung und wieder ein 1. Mai wie wir ihn einst gewohnt waren."

Er gehörte zu der kleinen Zahl deutscher Juden, die diese Deportationen überlebten.

Rückkehr nach Deutschland

Die ersten Nachkriegsjahre verbrachte Berthold Simonsohn in der Schweiz. Als Harry Goldstein, der nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes wieder zum Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Hamburg gewählt worden war, ihn bat, die Stelle des Rechtsdezernenten zu übernehmen, um die meist in Armut und Not lebenden Juden zu beraten, kehrte er 1950 nach Deutschland zurück.

Als er sich hierzu entschlossen hatte, war dies für einen Menschen, der insgesamt fünf Konzentrationslager überlebt hatte, sehr ungewöhnlich, zumal die internationalen jüdischen Organisationen einhellig die Meinung vertraten, dass kein Jude je wieder einen Fuß in das Land der Täter setzen sollte.

Wenn wir uns im Rückblick fragen, wie seine Entscheidung zustande kam, so finden wir eine ganze Reihe von Gründen und Motiven. Bereits kurz nach seiner Befreiung im KZ Dachau im Juni 1945 stellte sich die Frage, wo er künftig leben werde. Aus sprachlichen Gründen - er hatte in den 30er Jahren einen wenig erfolgreichen Versuch unternommen, Hebräisch zu lernen - verwarf er die Idee, nach Palästina zu gehen, die USA schieden für den demokratischen Sozialisten als Einwanderungsland ebenfalls aus.

Er kehrte nach Deutschland zurück, das, wie er sagte, "so tief wie nie zuvor in seiner Geschichte gesunken war", um daran mitzuwirken, es zu einem demokratischen Staatswesen aufzubauen.

Pionier des jüdischen Lebens

So nannte ihn Harry Maòr anlässlich seines 50. Geburtstages, da er damals zu den wenigen gehörte, die nach Deutschland zurückgekehrt sind, um hier jüdisches Leben wieder aufzubauen.

1951 hatte der Zentralrat der Juden in Deutschland beschlossen, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland wieder zu gründen und Berthold Simonsohn als geschäftsführenden Direktor mit dieser Aufgabe zu betrauen. Ausschlaggebend für diese Entscheidung waren Simonsohns Organisationserfahrungen in Verbindung mit seinen soliden juristischen Kenntnissen.

Die wichtigste Aufgabe der ersten Jahre war die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus. Simonsohn setzte sich gemeinsam mit dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Hendrik van Dam, für die Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes ein, wobei er darauf drängte, dass bei der "Wiedergutmachung" nicht nur die Vermögensschäden ersetzt, sondern dass auch die gesundheitlichen Schäden, wozu er auch die psychosomatischen Erkrankungen zählte, als verfolgungsbedingt anerkannt werden müssten. Er erreichte es auch, dass das Tragen des "Gelben Sterns" als Verfolgungstatsache anerkannt wurde, wozu er einen Prozess führen musste.

Die über viele Jahre hinweg von ihm redaktionell betreute "Wiedergutmachungsbeilage" der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung war für Juden bei der Beantragung von Wiedergutmachungsleistungen eine unentbehrliche Hilfe, weil Simonsohn in dieser Beilage Gerichtsurteile und medizinische Gutachten veröffentlichte. Auch in hunderten von Einzelfällen stand er den Ratsuchenden zur Seite.

Unter seiner Leitung entwickelte sich die neue Zentralwohlfahrtsstelle im ersten Jahrzehnt seit ihrer Neugründung von dem "Ein-Mann-Betrieb" zu einem ausgebauten Wohlfahrtsverband, der Anerkennung fand durch die Aufnahme in die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege. Damit gehörte die Zentralwohlfahrtsstelle wieder zu den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege.

Berufung zum Professor

Simonsohns von Jugend an gehegter Wunsch, als Wissenschaftler und Hochschullehrer zu arbeiten, erfüllte sich, als er 1962 auf eine Professur für Sozialpädagogik und Jugendrecht an die Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt berufen wurde. Durch seinen psychoanalytischen und gesellschaftskritischen Ansatz, mit dem er Sozialisationsverläufe von Kindern und Jugendlichen mit deviantem Verhalten analysierte, gab er dem Fach Sozialpädagogik an der Frankfurter Universität ein besonderes Profil. Er befasste sich insbesondere mit den Problemen der Jugenddelinquenz und verfolgte dabei das weit reichende Ziel, die Jugendgefängnisse abzuschaffen. An deren Stelle sollten Resozialisierungsmaßnahmen und andere Hilfsangebote treten. "Erziehen statt strafen", das war sein Motto. Deshalb sollte das Jugendrecht in das Jugendhilferecht integriert werden. Mit diesen Vorschlägen, die er in der Kommission der Arbeiterwohlfahrt zur Jugendstrafrechtsreform entwickelte, war er - wie er selbst wusste - seiner Zeit weit voraus.

Angesichts der steigenden Zahl von in ihrer Entwicklung gestörten Kindern und gewaltbereiten Jugendlichen sind seine Ansätze auch heute von brennendem Interesse. Ihm ging es zum einen darum, eine Theorie zur Erklärung der Entstehung von deviantem Verhalten zu entwickeln, und zum anderen suchte er nach Methoden der Prävention und Resozialisierung. Als Jurist und Sozialpädagoge galt sein Interesse insbesondere der Reform des Jugendhilfe- und Jugendstrafrechts. Durch seine Berufung in die "Kommission des Bundesjustizministeriums zur Reform des Jugendstrafvollzugs" 1970 hat er an der Gestaltung der Gesetzesreform mitgewirkt.

Seine umfassenden praktischen Erfahrungen in der sozialen Arbeit während der Zeit der Verfolgung und nach Kriegsende bildeten das Fundament, auf dem Simonsohn seinen theoretischen sozialpädagogischen Ansatz entwickelte. Er erkannte zudem, dass in Deutschland in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes ein geistiger Stillstand eingetreten war, weil es von den internationalen Entwicklungen in der sozialen Arbeit abgeschnitten war. Er war der Auffassung, dass die Ausbildung von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern auf Universitäten erfolgen sollte, weil nur so die soziale Arbeit in Deutschland wieder internationales Niveau erreichen könnte.

Simonsohn prägte in entscheidender Weise die Entwicklung des Faches Sozialpädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft. Insbesondere durch seinen interdisziplinären, tiefenpsychologisch fundierten theoretischen Ansatz leistete er einen wichtigen Beitrag für die moderne Sozialpädagogik in Theorie und Praxis. Durch seine Veröffentlichungen und den großen Kreis seiner Schüler wirkte er weit über Frankfurt hinaus.

Für Verständigung

Simonsohn hat sich in besonderer Weise für die Juden in Palästina und später für Israel engagiert. Durch ehrenamtliche Arbeit in der Gesellschaft des Bundes der Freunde der Hebräischen Universität, deren stellvertretender Vorsitzender er war, in der deutsch-israelischen Gesellschaft und durch die Organisierung von Gruppenreisen nach Israel, die er bereits Anfang der 60er Jahre unternahm, bahnte er - noch bevor es Botschaften in beiden Ländern gab - die Beziehung zwischen Deutschland und Israel an.

Berthold Simonsohn hat sich stets für eine arabisch-jüdische Verständigung engagiert, für eine Föderation aller Völker im Nahen Osten und für den Frieden. Dafür zeugen seine Vorträge schon in den 30-er Jahren und seine Veröffentlichungen und Aktivitäten in verschiedenen Organisationen nach seiner Rückkehr nach Deutschland.

Der jahrelange Stress durch nationalsozialistische Verfolgung, die Lebensbedingungen im Ghetto Theresienstadt und den Konzentrationslagern waren für seine Gesundheit nicht folgenlos geblieben. Zu den schweren Migräneanfällen, an denen er bereits in Theresienstadt litt, kam später das Asthma hinzu. Stationäre Behandlungen und der Versuch, durch Kuren seine Leiden zu heilen, verliefen ergebnislos. Im Herbst 1974 erkrankte er so schwer, dass er sich für das ganze Wintersemester beurlauben lassen musste, war aber in den darauf folgenden Semestern bis zu seiner Emeritierung 1977 wieder arbeitsfähig und plante, eine "Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland" zu schreiben, worum ihn das Leo-Baeck-Institut gebeten hatte. Dieses Vorhaben konnte er nicht mehr realisieren, denn er starb - ohne vorherige akute Erkrankung - an Herzversagen.

Wilma Aden-Grossmann ist Professorin für Sozialpädagogik an der Universität Gesamthochschule Kassel und Autorin des 2007 erschienen Bandes "Berthold Simonsohn - Biographie des jüdischen Sozialpädagogen und Juristen.", der bei Campus erschienen ist. Am 10. Januar wird dieser im Jüdischen Museum Berlin von der Autorin vorgestellt. Micha Brumlik wird die Veranstaltung moderieren.


"Jüdische Zeitung", Januar 2008 www.j-zeit.de

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