Venezianische Zeitreise
Italien: Noch immer leben einige Juden im einstigen Ghetto und pflegen
dort alte Traditionen
von Marlene Grund
Wenn der berühmte Karneval in Venedig vorbei ist,
feiert die kleine jüdische Gemeinde der Lagunenstadt ihren eigenen
Karneval. Beim Purimfest, das in diesem Jahr am 14. März stattfand,
gibt es auch im Ghetto Masken und Kostüme, Tanz und Wein. Heute wohnt
nur noch eine Handvoll Juden im ältesten Ghetto Europas, doch der
Bezirk zwischen Canale di Cannaregio und Rio di San Girolamo wurde zum
Zentrum des jüdischen Lebens zwischen Tradition und Tourismus.
In ein paar Gassen hat sich die Atmosphäre des früheren
Ghettos erhalten, das einst Juden aus aller Herren Länder Zuflucht
bot. Nirgendwo sonst ist Venedig so glanzlos, sind die Häuser so
hoch, ist die Stimmung so beklemmend. In ihrem übervölkerten
Viertel bauten die Juden aus Platzmangel wahre Wohntürme, Stockwerk
über Stockwerk, jedes einzelne so niedrig, dass es kaum zum Stehen
reichte.
Als das Ghetto im 19. Jahrhundert größtenteils
abgerissen wurde, blieben fünf Synagogen erhalten, Scole genannt.
Eine ist an ihren großen Rundbogenfenstern zu erkennen, die anderen
sind von den umliegenden Wohnhäusern nicht zu unterscheiden. Ein
notwendiges Versteckspiel, denn als sie im 16. Jahrhundert entstanden,
war der Bau von Synagogen auf venezianischen Grundstücken verboten.
Heute nutze die jüdische Gemeinde die Synagogen abwechselnd, berichtet
Rabbiner Ramy Banin. Sie besteht aus etwa 450 Mitgliedern, der Rabbiner
gehört zur orthodoxen Chabat-Lubawitsch-Bewegung.
Hier, mitten im Ghetto, treffen sich Einheimische und
Touristen in Synagogen und im Museum, in Galerien und Devotionalienshops.
In den koscheren Restaurants tafeln Tagesbesucher neben Rabbinerschülern,
durch die düsteren Gassen laufen Paare, gekleidet, als sei das 19.
Jahrhundert noch nicht vorbei.
Die Stadtverwaltung von Venedig wies den Juden am 29.
März 1516 ein sumpfiges, ummauertes Gebiet zu, auf dem zuvor Kanonengießereien
betrieben wurden. Vom venezianischen "geto" (deutsch: Guss)
erhielt das Ghetto seinen Namen, es war die Bezeichnung eines separaten
jüdischen Viertels. Der Begriff setzte sich durch, als Papst Pius
IV. ihn 1562 in einer Bulle gebrauchte. Bürgerrechte gab es für
die Ghettobewohner nicht. Nach Sonnenuntergang wurden die Tore abgesperrt
und auf Kosten der Eingeschlossenen bewacht. Wer die Mauern verließ,
musste sich mit einer roten Kappe kennzeichnen. William Shakespeare hat
1596 seinen "Kaufmann von Venedig" hier angesiedelt, die Geschichte
des reichen Geldverleihers Shylock, der auf unmenschliche Verhältnisse
mit unmenschlichem Verhalten reagiert. In seiner berühmten Anklage
gegen Diskriminierung fragt er: "Wenn ihr uns stecht, bluten wir
nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet,
sterben wir nicht?" Neben Abneigung und Verachtung gab es für
die Juden Venedigs jedoch auch eine gewisse Sicherheit. Zu den humanitären
Mindeststandards gehörte, dass Übergriffe von Christen bestraft
wurden, im damaligen Europa ein einzigartiges Recht. Dadurch kam es nie
zu Pogromen. Venedig brauchte seine jüdischen Geldverleiher und Händler,
Ärzte und Anwälte, die es mit hohen Abgaben auspresste. Die
volle Bürgerrechte erhielten Juden erst im Jahr 1866.
Während des Faschismus, in den Jahren 1943 und 1944,
wurden die jüdischen Bewohner des Ghettos deportiert, 200 von ihnen
ermordet. Heute erinnern auf dem Campo Ghetto Novo zwei Tafeln und ein
Relief an die Opfer. Doch nicht nur sie konfrontieren deutsche Besucher
mit der Vergangenheit. Rabbiner Banin zuckt merklich zurück, als
er die Nationalität seiner Gesprächspartnerin erfährt.
Gerade noch hatte er lächelnd erklärt, er könne in allen
Sprachen antworten, doch jetzt schüttelt er heftig den Kopf: "Deutsch?
Niemals." Attraktivstes Ghetto: In Venedig leben Juden immer noch
in den Häusern ihrer Vorfahren. Das lockt Touristen an.
Jüdische Allgemeine, 16.3.2006
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