Leben im Museum
Italien: Die Juden in Venedig leiden unter dem Tourismus - und profitieren
von ihm
von Claudia Schade
Es sei nicht immer schön, in einem Museum zu leben,
sagt Elia Richetti. Der 56- Jährige drückt sein Bedauern mit
einem derart verschmitzten Schmunzeln aus, dass man ihm die Betrübnis
nicht recht abnehmen will. Doch dann fährt sich der Rabbiner der
jüdischen Gemeinde Venedigs durch den grauweißen Vollbart,
und die Augen blitzen nicht mehr schelmisch, sondern werden ernst. Gedämpftes
Sprachgewirr schallt von der Gasse in sein Büro: Touristen auf ihrem
Weg durch das alte Ghetto.
Richetti beugt sich über seinen Schreibtisch. Seine
Stadt werde zum Museum. Nein, noch schlimmer: zu einem Disneyland, einer
Kulisse für Besucher, die nichts mehr mit dem Leben in der Lagunenstadt
zu tun hat. "Die Bäcker, Fleischer und Schuhmacher schließen",
sagt Richetti. Selbst Lebensmittelgeschäfte gibt es kaum noch. Zum
Einkaufen haben die Venezianer den weiten Weg in einen Supermarkt am Stadtrand
auf sich zu nehmen. Hinzu kommt: Es muss alles per Schiff herbeigeschafft
werden. Das treibt die Preise in die Höhe. "Wenn ich eine Pfanne
kaufen will, muss ich dafür bis nach Mestre aufs Festland fahren",
sagt der Rabbiner. Wo früher Bäcker und Schuhmacher waren, werden
nun venezianische Masken und Murano- Glas verkauft. Der Souvenirhandel
boomt. "Das kommt alles aus Asien", schimpft der Rabbiner.
Würden diese Einschränkungen nur seinen privaten
Alltag betreffen, dann wäre Richetti sicherlich nicht so in Rage.
Aber die immer stärkere Ausrichtung der Stadt auf den Tourismus hat
auch Folgen für seine Gemeinde. "Außer im Tourismus gibt
es keine Arbeit. Wer etwas Anspruchsvolles machen möchte, muss die
Stadt verlassen", sagt der Rabbiner. Die Gemeinde, ohnehin durch
ein hohes Durchschnittsalter der Mitglieder geprägt, verliert die
wenigen Jungen. "Von unseren 450 Mitgliedern ist knapp die Hälfte
über 70", sagt Richetti. Weder gibt es einen eigenen Kindergarten
noch eine Schule. Jeden Montag unterweisen vier Lehrer die wenigen Kinder
in jüdischer Geschichte, Hebräisch und Religion. "Es gibt
nur noch 14 Kinder in unserer Gemeinde", sagt der Rabbiner. "Wir
können nicht mehr Unterricht anbieten. Aber drei Stunden in der Woche
reichen längst nicht aus."
Eine weitere Schwierigkeit der Gemeinde ist, dass ihre
Mitglieder weit verstreut leben. "Zu uns gehören auch Menschen,
die in Mestre, Treviso oder Belluno wohnen", sagt Richetti. Mestre
zum Beispiel habe schon seit 20 Jahren keine eigene Synagoge mehr. Der
Einzugsbereich umfasse daher das ganze östliche Venetien. "Die
Menschen dort können aber nicht zu jeder Feierlichkeit kommen",
sagt der Rabbiner, "und wir können nicht alle erreichen, sondern
sind eher für eine kleine Gemeinde ausgelegt." Nur etwa 100
Mitglieder seien aktiv. "In dieser Beziehung wünschen wir uns
die Stärke von Chabad Lubawitsch, die können sich besser um
Verstreute kümmern."
Das allerdings macht die chassidische Bewegung manchmal
auch direkt vor Richettis Haustür. An einem der Zugänge zum
zentralen Platz des Ghettos haben die Chabadniks einen kleinen Laden gemietet.
Davor steht ein junger Mann. "Sind sie jüdisch?", fragt
er alle Vorbeikommenden. Wer dies bejaht, wird zum gemeinsamen Gebet eingeladen
und später auch zum Essen in das Chabad-eigene Restaurant.
Richetti sieht die Aktivitäten mit kritischer Distanz.
"Ich habe nichts gegen Chabad", sagt er. Auch dass sie vor seiner
Nase um Mitglieder werben, störe ihn nicht. "Aber an die Regeln
sollten sie sich halten." Einmal wurde in dem Chabad-Restaurant noch
spät abends laut gesungen, sodass sich die Anwohner beschwerten.
"Das fiel natürlich auf unsere Gemeinde zurück", bedauert
der Rabbiner. Ein anderes Mal bekam er zufällig mit, wie ein Chabadnik
auf die Frage eines Begleiters, ob die Pizzeria im Ghetto auch wirklich
koscher sei, mit einem zögerlichen Ja antwortete und dann sagte:
"Aber nicht richtig." Das regt Elia Richetti auch heute noch
auf. "Natürlich ist sie koscher", sagt er, "ich überprüfe
das, mein Zertifikat hängt an der Eingangstür."
Dann erzählt er nicht ohne Stolz, dass er drei Familien
dazu gebracht hat, fortan koscher zu essen. "Und außerdem habe
ich vielleicht auch ein kleines bisschen dazu beigetragen, dass drei gemischte
Ehen mit hebräischen Hochzeiten geschlossen wurden." Beim Erzählen
blitzt sein schelmisches Schmunzeln kurz wieder auf.
Die Mischehen seien noch so ein Problem, sagt er und wird
wieder ernst. "Viele Paare möchten ihre Kinder später selbst
entscheiden lassen, ob sie christlich oder jüdisch sein wollen. Aber
die kennen den jüdischen Ritus dann gar nicht, und so bleibt er ihnen
fremd."
Bei allen Nachteilen, die der Tourismus in der Stadt für
die Gemeinde bedeutet, weiß sie ihn sich doch in einigen Bereichen
zunutze zu machen. Wer in Venedig sefardisch heiraten möchte, kann
dies tun - für 6.000 Euro. "Die sind aber jeden Cent wert",
wirbt Richetti. "Bei der Stadtverwaltung zahlen sie genauso viel.
Wir aber bieten noch eine wunderschöne Synagoge mit Inventar aus
dem 16. und 17. Jahrhundert und die Begleitung mit alten italienischen
Gesängen." Da ist Rabbiner Richetti dann ganz Geschäftsmann.
Vermählt hat er schon Männer und Frauen aus Berlin, Melbourne,
Israel, Singapur und Hongkong.
Auch in anderen Bereichen profitiert die Gemeinde von
den Touristen. Das jüdische Museum wird zwar von der Stadtverwaltung
betrieben, die Gemeinde aber stellt Kultgegenstände für die
Ausstellung zur Verfügung und erlaubt einen Blick in drei Synagogen.
Sie achtet zudem darauf, dass die nichtjüdischen Fremdenführer
richtige Erklärungen geben und erhält einen Anteil an deren
Einnahmen. "Im Grunde sind das Gemeindeleben und die Touristenbesuche
aber zwei Welten, die nebeneinander herlaufen und sich kaum berühren",
sagt der Rabbiner. Das wird sich womöglich bald ändern. Noch
in diesem Herbst soll eine Pension eröffnen, die von Mitgliedern
der Gemeinde betrieben wird und jüdische Gäste in 13 Zimmern
beherbergen will.
Vielleicht kommen dann auch mehr Besucher in die Gottesdienste.
Schließlich besitzt die venezianische Gemeinde fünf Synagogen.
Je nach Feierlichkeit, Jahreszeit und Anzahl der Gläubigen wird das
passende Gebäude gewählt. Im Winter versammeln sich die Gläubigen
in der holzvertäfelten Scola Levantina, die die levantischen Juden
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erbauten. Sie hat als
einzige eine Heizung. Im Sommer und für Hochzeiten wird die Spanische
Synagoge genutzt. Sie erhielt ihren Namen nach den Erbauern, die 1492
von der iberischen Halbinsel nach Venedig flüchteten. Für Prozessionen
wiederum wird gern die älteste Synagoge, die aschkenasische Scola
Tedesca, verwendet. Sie wurde 1528 gegründet und zeigt auch heute
noch eindrucksvoll, dass die ersten Juden, die sich dauerhaft in Venedig
niederließen, aus Deutschland kamen.
Sie sollen es auch gewesen sein, die das Wort "Ghetto"
prägten, das laut Rabbiner Richetti 1555 erstmals schriftlich erwähnt
wurde und sich in nur drei Jahren international als Begriff für ein
abgeschlossenes und bewachtes Viertel durchsetzte. "Und das ohne
Internet und Fernsehen", betont der Rabbiner und setzt dabei wieder
sein Schelmengesicht auf. Entlehnt ist das Wort dem italienischen Wort
für gießen, "gettare". Für die Ansiedlung der
ersten Juden in der Lagunenstadt hatten die Dogen das Grundstück
einer ehemaligen Gießerei zur Verfügung gestellt und damit
das erste Ghetto der Geschichte gegründet. 1651, in seinem bevölkerungsreichsten
Jahr, haben dort 5.000 Menschen gelebt.
An diese Zahl lässt sich heute freilich nicht mehr
anknüpfen. Dennoch wird Rabbiner Elia Richetti nicht müde, für
seine Gemeinde zu werben. "Wenn es jemandem gefallen würde,
in Venedig zu leben", sagt er und grinst, "dann würden
wir ihm nur das Beste von uns zeigen und alles tun, damit er hier bleibt."
Jüdische Allgemeine, 4.10.2007
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|
|