Urteil statt Vorurteil. Heute:
Land Israel - das verheißene Land
von Klaus-Peter Lehmann

Die ewige Bindung des Volkes Israel an das ihm von Gott für immer zugeschworene Land Israel (1Mose 17,8; 26,3) gehört zu den Voraussetzungen biblischer und jüdischer Frömmigkeit. Sie ist Herzstück der Bundesgeschichte (Ps 105,8-11) und ihrer Verheißungen und spielt doch in der kirchlichen Verkündigung keine Rolle, allenfalls eine negative. Dieser blinde Fleck geht auf die verhängnisvolle Enterbungslehre zurück, der zu Folge die Kirche das neue Israel sei. Die Juden seien aus Strafe dafür, dass sie Jesus gekreuzigt hätten, aus ihrem Land vertrieben und zu ewigem ruhelosem Leben verdammt worden, außer sie würden sich taufen lassen. Für eine Kirche, die Israel verdrängt und auf das Ende des Judentums wartet, sind die Landverheißungen bedeutungslos. Bezog man sich auf sie, wurden sie vergeistigt und entwertet. Das Erbe des Landes für Israel sei materieller Vorläufer des spirituellen Himmelreiches für alle Menschen. Das Festhalten der Juden am Land zeige ihre Blindheit für das ewige jenseitige Gut oder ihr gewalthaltiges religiöses Besitzdenken. Immer wieder aber proklamierten messianische Bewegungen eine Rückkehr zum Zion und demonstrierten die geschichtliche Lebendigkeit der biblischen Verheißungen im jüdischen Volk (1)

Der Blick ins Alte Testament lehrt: Nicht willkürliche Landnahme führte Israel nach Kanaan. Dieses Land ist für Israel nicht eroberter Besitz, sondern unverdiente Gabe Gottes (5Mose 6,10-19; 9,4-6) und moralische Aufgabe, nämlich durch vorbildhaftes Befolgen seiner gerechten Gebote der Völkerwelt ein alternatives Modell gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens vorzustellen (5Mose 4,5f; Jes 2,2-5; Jer 7,3-7), damit euch das Land nicht ausspeie (3Mose 18,28). Mit der Gabe der Tora und des Landes sah sich Israel zu einer Weltaufgabe erwählt. Im Namen der einen universalen Gerechtigkeit, die die Tora meint und auf der alleine der ewige Weltfriede beruhen kann, und nicht im Namen irgendeiner nationalen liegt Israels Rechtsanspruch auf das ihm versprochene, das gelobte Land. (2) Israel erhielt dieses Land, um der Menschheit das ewige Himmelreich anzudienen.

Das Alte Testament deutet die schmerzhaften Exile und die Verwüstung des Landes als Strafe des Volkes dafür, seiner Weltaufgabe aus eigensüchtigen Motiven nicht nachgekommen zu sein (Jer 3,2; 7,9-11). Die Rückkehr ins Land gilt als Wiedereinsetzung in diese Aufgabe: Ich habe dich gemacht zum Bundesmittler für das Menschengeschlecht, indem ich dem Land wieder aufhelfe und verwüstetes Erbgut wieder verteile (Jes 49,6). So muss das Festhalten der Juden am Land Israel als Bekenntnis zu ihrem Lebensgrund, ihrer Erwählung, anerkannt werden. Israels Verhältnis zu seinem Land ist prinzipiell ethischer Natur.

Zudem ist in der Heimkehr Israels die Treue Gottes zu seinem Volk, zu seinen Verheißungen und zu sich selbst zu erkennen, und damit Gott selbst (Ez 36,22; 37,28). (3) Durch das geschichtliche Überleben des Volkes der Tora in Erez Israel und der Diaspora bleibt Gottes Stimme in der Völkerwelt und an sie ewig erhalten. (4)

Die Kirche Jesu Christi ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments dazu berufen, Israel zu schützen, zu unterstützen. Ist der Messias doch dazu gekommen, Israel zu befreien von seinen Feinden (Lk 1,71) und mit seinen Jüngern aus allen Völkern zu helfen, die verfallene Hütte Davids wiederaufzubauen (Apg 15,16; Am 9,11f). Christen sind getaufte Juden und Heiden, die berufen sind, ihr Leben aktuell auszurichten auf die mit Jerusalem verbundene Verheißung (Off Joh 21f) der Freiheit für Israel und des ewigen Völkerfriedens. (5)

Keine christliche Kirche hat je ihre Aufgabe darin gesehen, Israel zu erlösen aus der Hand seiner Feinde, damit sie in ihrem Land ohne Furcht Gott dienen können (Lk 1,74). Weil die Kirchen Israel als Bundesvolk enterben wollten, bemühten sie sich die Landverheißungen zu annullieren, den Glauben Israels zu entwerten und die selbständige Existenz der Judenheit als ewig erwähltes Volk (1Mose 17,13; Jer 31,35-37; Röm 11,1.29) zu leugnen. Deshalb wurde immer von "Palästina" gesprochen. Das erinnert an Israels Bedränger, die Philister, und adelt die Niederschlagung des jüdischen Aufstandes und die Zerstörung Jerusalems durch die Römer zu einer Gottesstrafe, die Israel zugunsten der Kirche enterbte. Die Bezeichnung Palästina für Erez Israel gelangte über die christliche Pilgerliteratur bis in die wissenschaftliche Literatur der Neuzeit. (6) In der Theologie unterschied man wie Augustinus zwischen der Zusage des Landes und "etwas weit Herrlicherem, das nicht dem fleischlichen, sondern dem geistlichem Samen gilt", nicht Israel, sondern allen Völkern. (7) Seitdem gilt weithin die Vorstellung von der Vorbereitung oder Präexistenz der Kirche "in der Geschichte des Volkes Israel und im Alten Bund." (8)

Für den Protestantismus hielt die Confessio Augustana fest: "So werden hie verworfen etlich jüdisch Lehren ... daß vor der Auferstehung der Toten eitel Heilige, Fromme ein weltlich Reich haben und alle Gottlosen vertilgen werden." Das bezog sich wahrscheinlich auf Nachrichten, ein jüdisches Heer habe eine Invasion nach Palästina begonnen. (9) Als jüdisch, diesseitig und weltlich wurden seitdem immer wieder soziale Bewegungen verworfen, die politische Gerechtigkeit forderten. Die Vermischung von Antijüdischem mit Antisozialem zu einem festgefügten Vorurteil blockierte die Möglichkeit, Bestrebungen positiv wahrzunehmen, die die Situation der Juden durch Einforderung von Rechten zu verbessern oder durch einen Exodus nach Israel grundlegend zu verändern suchten.

Im Verlauf der Neuzeit veränderte sich der weltanschauliche Hintergrund. Überall vermischte sich die Judenfeindschaft mit dem völkischen Denken des beherrschenden Nationalismus, der auch die Kirchen ergriff. Der Biologismus und Rassismus, der die Juden als Fremdkörper im Volk denunzierte, forderten hier und da schon ihre Ausgrenzung oder Beseitigung. Der Exodus vieler Juden aus dem christlichen Antisemitismus, (10) die von Theodor Herzl ins Leben gerufene jüdische Rückkehrbewegung des Zionismus, fand kaum Beachtung. Erst die Shoa bewirkte die völkerrechtliche Anerkennung des Anspruches des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat in Palästina (UN-Teilungsbeschluss von 1947). Seitdem gilt Auschwitz als der moralische Imperativ für einen jüdischen Staat.

Eine kirchliche Reaktion blieb lange aus. Dabei hätte die Gründung des jüdischen Staates nach fast 2000 Jahren Exil auf der Folie der kirchlichen Enterbungslehre, die das Ende des Judentums durch Taufe oder Tod erwartete, wie ein Schock wirken müssen, als faktische Widerlegung der heilsgeschichtlichen Entwertung Israels. Es dauerte Jahrzehnte bis einsichtsvolle Stimmen sich hören ließen.

Zunächst wurde geredet, als wäre nichts passiert. Die Theologie sprach ungebrochen vom Ende Israels im 2. Jrh. n. Chr. (11) So legte es sich nahe, die Staatsgründung als rein politisches Geschehen zu deuten. (12) Zudem können sich viele die Erfüllung der Landverheißung nur als imperiale Eroberung vorstellen und deuten die diesbezüglichen biblischen Zeugnisse als Ausdruck gewalthaltigen religiösen Besitzdenkens.

Dabei liegt es durchaus nahe, Israels Einwanderung ins Land Kanaan, wie die Bibel sie bezeugt, nicht als koloniale Militäraktion zu verstehen, sondern als notwendige Unternehmung, die rechtlichen und gottesdienstlichen Zwecken dient: sich einen gesicherten Platz für die Anrufung des Namens des Gottes, der Unterdrückte befreit und Rechtsspruch fordert, zu erstreiten und zu behaupten. Ein Recht auf eigenes Land und Religionsfreiheit für davongelaufene Sklaven, die universale Gerechtigkeit ausrufen, gab es auch damals nicht zum pazifistischen Nulltarif.

Historisch ist ein langsames Einsickern der hebräischen Nomaden nach Kanaan greifbar (Ri 1). Die Kanaanäer waren den ehemaligen Sklaven haushoch überlegen (befestigte Orte; Eisenproduktion). Die Geschichte von David und Goliath spiegelt dieses Kräfteverhältnis wieder (1Sam 17). Wer wird dahergelaufenen Sklaven freiwillig Brunnenrechte und Weideflächen abgeben? Das Buch Josua schildert einen geschlossenen Einzug, den Übergang über den Jordan, als geschützte priesterliche Demonstration, die die Bundeslade, den Behälter der Tora, in ihrer Mitte, ins verheißene Land einzieht (Jos 3f). Eine Kriegskoalition bildeten die Könige Kanaans nach einem bemerkenswerten gottesdienstlichen Akt Israels, nach der öffentlichen Verlesung der ganzen Tora als Lebensgrundlage der Eingewanderten (Jos 8,30-9,2). Sowenig wie die Bibel primär von einer kriegerischen Eroberung des Landes spricht, so auch nicht von einem darauf gegründeten autonomen Besitzrecht. Die Verheißungen versprechen das Land als Lehen Gottes und geben nur Anteile ohne feste Grenzen. Die spätere Gründung eines wehrhaften Staates mit König ist auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, sich anders behaupten zu können (1Sam 4-8).

Unter vielen kirchlichen Erklärungen zur Erneuerung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen seit den 60er Jahren gehen nur wenige auf das Land bzw. den Staat Israel ein. So fragen die französischen Bischöfe 1973 ganz im Horizont der biblischen Verheißungen: "Wird die Sammlung der Zerstreuten des jüdischen Volkes, die sich unter dem Druck der Verfolgungen und des politischen Kräftespiels vollzogen hat, letzten Endes trotz aller Dramen einer der Wege von Gottes Gerechtigkeit für das jüdische Volk und, zu gleicher Zeit, für alle Völker der Erde sein?" (13) Diplomatische Beziehungen zwischen Israel und dem Vatikan wurden 1993/94 aufgenommen.

Eine evangelische Landessynode bekannte sich 1980 zu der "Einsicht, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind." (14)

(1) s. Art. Zionismus, Anm. 9
(2) Im Deutschen nennt man Israel oft das gelobte Land, einerseits wegen seiner vorzüglichen Eigenschaften im Vergleich z.B. zu Ägypten (5Mose 8,7-9; 11,10-12). Andererseits ist es das dem Volk Israel angelobte, ja mit ihm verlobte Land. Elfmal erneuert Gott sein Versprechen (1Mose 26,3: Eid) der Landgabe für Abrahams, Isaaks und Jakobs Nachkommenschaft, weil Abrahm auf mein Wort gehört und alles gehalten hat,... meine Gebote, meine Satzungen, meine Weisungen (1Mose 26,5). Um Abrahams Gehorsam willen besteht die Verheißung für Israel fort.
(3) Die Verheißungs- und Gerichtsworte für das ewige Bundesvolk formen sich zu einem Geschichtsbild: Vom Land Israel wird Friede ausgehen für alle Völker, wenn Israel sich an die gerechten Gebote der Tora hält; wandelt Israel nicht auf dem Weg der Gerechtigkeit, droht dem Volk die Strafe des Exils; um seines gegebenen Wortes willen, wird Gott das Volk zurückbringen und einen Neuanfang inszenieren: der verheißene Völkerfriede wird für Israel das verheißene sichere Wohnen im Lande mit sich bringen. Ez 36,22 macht deutlich, dass wie die Landgabe so auch die Rückführung ins Land an keinen Verdienst gebunden sind, sondern allein in der Selbstverpflichtung Gottes, in seiner Bundeszusage ruhen. Gott muss Israel zurückführen, sonst würde die Zuverlässigkeit seines gnädigen Wortes mit Recht angezweifelt werden. Darin ist angezeigt, dass Israel den Anspruch auf sein Land im Unterschied zu allen anderen Völkern nicht in einem Verwachsensein mit natürlichen Gegebenheiten (Boden, Kultur, Geschichte) sieht, sondern allein im unhinterfragbaren Geheimnis seiner Erwählung zu jener Weltaufgabe und dem damit verbundenen Joch der Bewährung im Lande.
(4) Die rabbinische Tradition spricht von der "Wohltat der Zerstreuung Israels", weil so kein Gewaltherrscher, der das jüdische Volk ausrotten will, seiner ganz habhaft werden kann. Prophetisch abgebildet sei diese Lage Israels unter den Völkern im Doppellager Jakobs, der vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau seine Herden in zwei Lager teilte und sagte: Wenn Esau kommt über das eine Lager und schlägt es, so wird das andere Lager entrinnen (1Mose 32,7f).
(5) Wozu ist Jesus gekommen? Zum Schutz des Volkes Israel. Er ist von Gott gesandt, um dem Volk Israel Errettung von seinen Feinden ... zu bringen, damit Israel ohne Furcht Gott dienen kann (Lk 1,74). ... Wann wird Jesus durch seine Kirche endlich seine messianischen Aufgaben von Lk 1 und 2 an Israel erfüllen - dass er den Hass der Völker gegen Israel überwindet und dass er Israel Frieden bringt? (H. Kremers, in: B. Klappert, Miterben der Verheißung, S. 314).
(6) Juden hingegen durchschreiten bis heute nicht den Titusbogen in Rom. Er bildet den Triumphzug des römischen Kaisers nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 p.C. ab, der die Menora, den Leuchter des Tempels, als Beutestück mitführt.
(7) Augustinus, Vom Gottesstaat, 16. Buch, Kap. 16
(8) Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, S. 228f; K. Barth, KD II/2, S. 235f
(9) CA, Art. XVIII. Melanchthon schreibt von einem solchen Unternehmen am 19.6.1530 an seinen Freund Camerarius. Dahinter könnte der Plan des David Reubeni stehen, der als Messias das Heilige Land für die Juden von den Türken befreien wollte und dafür um Unterstützung bei mehreren Herrschern Europas nachsuchte. Allerdings wäre auch an den Augsburger Täufer Augustin Bader zu denken, der für Ostern 1530 die Errichtung des 1000-jährigen Reiches erwartete und deshalb am 30. 3. 1530 in Stuttgart hingerichtet wurde.
(10) So sah auch Theodor Herzl den Zionismus. Eine vollkommen berechtigte Sicht angesichts der wiederholten Pogrome in Europa, die mehrere Rückkehrschübe (Alija) verursachten: 1.-3. Alija (1882; 1904/5; 1918/9) aufgrund von Pogromen in Russland; 4. Alija (1924/5) aufgrund wirtschaftlichen Auswanderungsdruckes in Polen; 5. Alija (nach 1933) aufgrund des Endes des Minderheitenschutzes in ganz Europa; 6. Alija (1948/9) nach der Gründung des Staates Israel aus aller Welt.
(11) M. Noth schließt sein zur studentischen Standardlektüre gehörendes Buch "Geschichte Israels" nach der Schilderung des Endes des Bar-Kochba-Aufstandes im Jahr 135 p.C. mit dem sibyllinischen Satz: "Damit endete das schauerliche Nachspiel der Geschichte Israels" (6. Aufl., 1966, S. 406).
(12) Solange die Juden überall nur als gefährdete Minderheit lebten und ihr Schicksal als göttliche Strafe gedeutet werden konnte, fiel es niemandem ein, die Enttheologisierung der jüdischen Geschichte zu fordern.
(14) Die Haltung der Christen gegenüber dem Judentum. Pastorale Handreichungen, Französische Bischofskonferenz, 16. 4. 1973
(13) Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden, Handreichung der Landessynode der Ev. Kirche im Rheinland, 1980

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