GLÜCKWÜNSCHE UND SORGEN
Eine Erklärung zum 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels

Israels 60. Jahrestag

Am 14. Mai 2008 jährt sich der Tag der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel zum 60. Male. Seinen Bürgern zu diesem Tag zu gratulieren, ist nicht nur ein Gebot der Höflichkeit. Für uns deutsche Staatbürger, gleich welcher Religionszugehörigkeit und kulturellen Orientierung, sind die Glückwünsche eine politische Selbstverständlichkeit. Sie leiten sich nicht nur aus den Verbrechen der Nazi-Vergangenheit her, sondern auch aus den vielfältigen positiven gesellschaftlichen und persönlichen Verbindungen und Beziehungen, die in diesen sechzig Jahren entstanden und gewachsen sind.

In den Respekt und die Bewunderung für die Aufbauleistungen, für die kulturelle Vielfalt und die wissenschaftlich-technischen Erfolge, für die intellektuelle Produktivität und für den demokratisch organisierten Pluralismus Israels mischen sich gleichwohl große Sorgen. Israels Bevölkerung genießt bis heute nicht jene Sicherheit, die sich Theodor Herzl und andere von einer nationalstaatlichen Souveränität als Lösung der "jüdischen Frage" (die ja in erster Linie eine Frage der Nichtjuden war) erhofft hatten; eine Anforderung, die sich nach der Shoah dringlicher denn je stellte. Im Gegenteil: Von neuen und sich verstärkenden Polarisierungen im Innern ganz abgesehen, die vor dem Verhältnis zwischen den jüdischen und den arabischen Staatsbürgern in Israel selbst nicht halt machen, steht das Land vor dramatischen äußeren Herausforderungen. Der Irak-Krieg hat die Sicherheitslage Israels nicht verbessert, sondern neue Unsicherheiten geschaffen, nicht zuletzt durch die Stärkung des radikal-islamischen Regimes im Iran und seiner Verbündeten in der Region. Umso dringender erscheint es, endlich einen historischen Kompromiss zwischen Israel und den Palästinensern zu schließen, der eine friedliche Koexistenz zwischen beiden Völkern und Staaten ermöglicht.

Obwohl die Kernpunkte für eine Lösung des zentralen Konflikts mit den Palästinensern - so wie sie von israelischen Intellektuellen im Grunde seit 1967 vertreten wird - international im Wesentlichen erkannt sind und breite Unterstützung finden und obwohl der größte Teil der arabisch bzw. islamisch geprägten Staaten inzwischen seine Bereitschaft signalisiert hat, sich mit Israel zu arrangieren oder sogar auszusöhnen, erscheint der Weg zum Frieden im Rahmen einer Zweistaatenregelung verbaut. Verbaut einmal im buchstäblichen Sinne durch ein schier unaufhaltsames Wachstum der Siedlungen und den Verlauf der so genannten Trennungsmauern in der Westbank und in Ost-Jerusalem, die z. T. weit über die Grüne Linie, die Grenze von 1967, hinausreichen; verbaut aber auch im übertragenen Sinne durch Strategien gewaltsamer Vergeltung auf beiden Seiten, durch einen dramatischen wechselseitigen Vertrauensverlust, durch einen wachsenden politisierten religiösen Fundamentalismus, der sich jeglichen Kompromissen versagen will, und schließlich durch die geringen internen Handlungsspielräume, die die innenpolitischen Gegner eines Friedensprozesses, der diesen Namen verdient, den Verhandlungspartnern lassen.

60 Jahre Staat Israel, das sind seit 1967 auch über vierzig Jahre Besatzung arabischer Territorien. Auch wenn der radikale Nationalismus die Besitzansprüche auf das, was den Palästinensern von ihrer Heimat vor 1948 noch geblieben ist, mit dem gesamtgesellschaftlichen Bedürfnis nach nationaler Sicherheit verbindet, so lässt sich nicht länger übersehen, dass die Siedlungen solche Garantien nicht bieten, sondern den Schutz Israels und auf Dauer möglicherweise sogar seine Existenz gefährden, weil sie den Konflikt immer weiter verlängern. Israel hält die Welt mit den Siedlungen zum Narren und merkt nicht, dass es sich damit selbst betrügt, schrieb einmal die Tageszeitung "Haaretz". Die Besatzung verletzt Tag für Tag die Menschenrechte der Palästinenser und ihr Recht auf Selbstbestimmung und beschädigt damit auch die rechtsstaatliche und die moralische Integrität Israels. Das wird nirgendwo breiter dokumentiert als in Israel selbst: von Friedens- und Menschenrechtsgruppen, von kritischen Wissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellern.

Die Konflikte zwischen Juden und Arabern in Palästina während der britischen Mandatszeit mündeten in den Bürger- und dann Staatenkrieg von 1947-49, die Gründung des Staates Israel war eine Geburt in Flammen. Für die arabischen Bewohner führten Krieg und Niederlage in die "Katastrophe" aus Flucht und Vertreibung von 750 000 Menschen. Unabhängig von der Frage nach historischer Schuld oder Verantwortung für den Nahost-Konflikt steht heute fest, dass der staatsbildende Zionismus, der aus internen Problemen Europas hervorgegangen und dort entstanden ist, auf die Zustimmung seiner arabischen Nachbarn angewiesen bleibt. Nur durch die grundsätzliche Zurücknahme der Siedlungen in der Westbank, durch die Schaffung eines unabhängigen und entwicklungsfähigen Staates Palästina, durch die Etablierung Jerusalems als Doppelhauptstadt zweier nationaler Souveränitäten sowie durch eine abschließende Regelung für die palästinensischen Flüchtlinge besteht Aussicht auf einen Frieden, der Gewalt und Terror die Legitimation entzieht und dauerhaft überwindet.

Diese Einsicht ist unter Israelis und Palästinensern inzwischen weit verbreitet, doch die verfügbaren Rahmenangebote - sei es die arabische Friedensinitiative von 2002/2007, die Road Map vom April 2003 oder die Genfer Initiative vom Dezember 2003 - auszufüllen, ist den beteiligten Konfliktparteien bislang nicht geglückt. Es scheint so, als seien sie dazu ohne nachhaltige Hilfestellung von außen nicht oder nicht mehr in der Lage.

Anfragen an die deutsche Politik und Öffentlichkeit

Politik und Öffentlichkeit in Deutschland tun sich schwer im Umgang mit dem Nahostkonflikt. Wir raten dazu, generell die unabweisbaren Verpflichtungen, die sich aus der historischen Verantwortung für das jüdische Volk ergeben, deutlicher von der politischen Analyse und einer auf Frieden gerichteten Politik in der Region zu unterscheiden. Nach unserer Auffassung bleiben die von allen Bundesregierungen permanent beschworenen besonderen Beziehungen zu Israel hohle Rhetorik, wenn sie keine politischen Konsequenzen nach sich ziehen. Dazu gehört mehr als die regierungsamtliche Beteiligung an umfangreichen Finanztransfers an die Palästinensische Autonomiebehörde, beim Aufbau wirtschaftlicher, administrativer und polizeilich-exekutiver Infrastrukturen und am Krisen-Management in akuten Fällen. Konkret heißt das: Deutschland sollte gemeinsam mit den anderen Staaten in der Europäischen Union eine friedenspolitische Führungsrolle übernehmen und auf eine konstruktive, wenn erforderlich auch kritische Partnerschaft mit der US-amerikanischen Regierung im Nahen Osten drängen. Mittelfristig sollte sich Deutschland im Rahmen der EU oder der Vereinten Nationen auf weitere und umfangreichere Aktivitäten im Bereich der Vermittlung und der Friedenssicherung einstellen. Darin sind Maßnahmen einzuschließen, die den Konfliktparteien Sicherheiten bieten bzw. vor Ort installieren und garantieren, wenn solche Hilfestellungen von ihnen selbst gewünscht werden. Längerfristig sind Möglichkeiten einer stärkeren An- oder Einbindung Israels und des zu gründenden palästinensischen Staates in die EU zu diskutieren.

Grundsätzlich heißt das aber auch, nicht nur bewaffnete Angriffe und die Infragestellung des Existenzrechts Israels von palästinensischer (oder anderer arabischer bzw. islamischer) Seite zu verurteilen, sondern auch zu einzelnen Aspekten der israelischen Politik nachdrücklich auf Distanz zu gehen. Auch im Jubiläumsjahr darf die deutsche Politik den Zusammenhang zwischen der extrem schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage der Palästinenser auf der einen und der Unsicherheit und Bedrohung Israels auf der anderen Seite nicht aus den Augen verlieren. Umso wirksamer kann die Bundesregierung nach außen den Anfeindungen einiger arabisch bzw. islamisch geprägter Länder entschieden entgegentreten. Das gilt insbesondere für die wiederholten Äußerungen des iranischen Präsidenten und seines Umfeldes, der Anfang vom Ende Israels sei gekommen; eine ungeheuerliche Haltung nicht nur gegenüber Israel, sondern gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft. Und umso wirksamer kann die Bundesregierung nach innen einem teilweise dramatischen Niedergang des israelischen Ansehens in der Bevölkerung begegnen.

Mit Sorge beobachten wir in der öffentlichen Debatte eine zunehmende Spaltung zwischen radikaler Islamkritik einerseits und wachsendem "Israel-bashing" andererseits. Zwischen Kritik an israelischem Regierungshandeln oder an Aktionen rabiater Siedler und einer kollektiven Dämonisierung oder gar Dehumanisierung des jüdischen Volkes in Israel ist ein deutlicher Trennungsstrich zu ziehen. Umgekehrt müssen Formen eines fanatischen Antisemitismus einschließlich eliminatorischer Tendenzen auch unter Arabern und Muslimen stärker zur Kenntnis genommen und in die Analyse einbezogen werden, ohne nun andererseits den Islam zu dämonisieren. Man kann Antisemitismus nicht mit Islamophobie heilen.

Von Politikwissenschaft und Friedensforschung in Deutschland wünschen wir uns mehr konkrete Forschung über Angebote zur Spannungsreduzierung, Konfliktregulierung und Konflikttransformation. Die Forschung sollte auch den Mut haben, zivil-militärische Mischstrategien der Friedenssicherung und der Friedensförderung zu diskutieren und sie für die Überwindung des Nahostkonflikts nutzbar zu machen. Die innerisraelische Kritik an der eigenen Politik immer nur zu spiegeln, hilft den Beteiligten vor Ort nicht weiter. Das gilt auch für deutsche Friedensgruppen. Wenn es ihnen ernst ist um den Frieden, dann sollten sie ihre Partner auf beiden Seiten des Konflikts zu Schritten des Ausgleichs ermutigen und sie dabei politisch wie praktisch unterstützen, aber ihre moralisch-pädagogischen Impulse zügeln.

Dr. Reiner Bernstein, Historiker, München; Prof. Dr. Micha Brumlik, Universität Frankfurt am Main; Daniel Cohn-Bendit, MdEP; Prof. Dr. Hajo Funke, Freie Universität Berlin; Ralf Fücks, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin; Dr. Klaus Harpprecht, Autor, LaCroix, Frankreich; Gert Heidenreich, Schriftsteller, Seefeld; Prof. Dr. Gert Krell, Universität Frankfurt am Main; Renate Lasker-Harpprecht, LaCroix, Frankreich; Dr. Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems; Prof. Dr. Harald Müller, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt am Main; Dr. Rolf Mützenich, MdB; Dr. Reiner Steinweg, Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, Linz; Prof. Dr. Martin Stöhr, Universität Siegen; Dr. Johano Strasser, Autor, Berg am Starnberger See.

Der oben veröffentlichte Wortlaut ist die ungekürzte Fassung der Erklärung, gekürzt erschien sie am 18.4.2008 in der Frankfurter Rundschau. Sie wurde von den Erstunterzeichnern zum 60. Geburtstag Israels erarbeitet. Sie entstand aus der Kontroverse um das "Manifest der 25", das die Frankfurter Rundschau am 15. November 2006 veröffentlicht hatte. Darin hatten deutsche Wissenschaftler eine Neugestaltung des deutsch-israelischen Verhältnisses und die Einbeziehung der Palästinenser in dasselbe gefordert und dafür heftigen Widerspruch im In- und Ausland geerntet. Das neue Papier verfolgt einen völlig neuen Ansatz und ist eine gemeinsame Initiative von jüdischen und nicht-jüdischen deutschen Intellektuellen.

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