Deutschland gratuliert: 60 Jahre Staat Israel:
Festrede von Bundestagspräsident Norbert Lammert
beim Festakt in der Paulskirche am 14. Mai 2008
Deutschland gratuliert Israel zum 60. Geburtstag!
Dieser schlichte Satz ist bei weitem nicht so banal wie
er sich anhört. Dass die Deutsch-Israelische Gesellschaft, der Koordinierungsrat
der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und
der Zentralrat der Juden in Deutschland gemeinsam einen Festakt zum israelischen
Staatsjubiläum ausrichten, gehört zu den scheinbaren Selbstverständlichkeiten,
an die wir uns zu gewöhnen begonnen haben.
Tatsächlich erscheinen die heutigen Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel beinahe wie ein Wunder der Geschichte, gemessen
an der entsetzlichen Vergangenheit, die Deutsche und Juden immer in beispielloser
Weise verbinden wird.
In den gut sechs Jahrzehnten nach der Befreiung der Konzentrationslager
hat sich eine Freundschaft entwickelt, auf die niemand ernsthaft hoffen
konnte. Schließlich waren unter den Staatsgründern Israels
die Überlebenden der Todeslager und die Vertriebenen aus den zerstörten
Ghettos.
Der heutige Staatspräsident Simon Peres hat daran
erinnert, dass im jungen israelischen Staat "die Auffassung überwog,
dass der Bruch mit Deutschland endgültig und ewig sein müsse".
Dies zeigt einmal mehr: Wer über die Zukunft der
deutsch-israelischen Beziehungen reden will, der muss auch über die
Vergangenheit reden.
Schon vor über 80 Jahren wurde das "Deutsche
Komitee Pro Palästina" gegründet, 1926 in Berlin. Gründungsmitglieder
waren unter anderem Reichstagspräsident Paul Löbe, der Kölner
Oberbürgermeister Konrad Adenauer, Albert Einstein, Thomas Mann,
Eduard Bernstein und Leo Baeck.
Im Programm des Komitees hieß es, man werde "in
der Überzeugung, dass der Aufbau, der im Palästinamandat vorgesehenen
Heimstätte für das jüdische Volk als ein Werk menschlicher
Wohlfahrt und Gesittung Anspruch auf die deutschen Sympathien und die
tätige Anteilnahme der deutschen Juden hat, bemüht sein, die
deutsche Öffentlichkeit über jüdische Kolonisationswerke
in Palästina aufzuklären, die Beziehungen zwischen Deutschland
und Palästina und die Versöhnung der Völker zu pflegen".
Leider hat sich die Geschichte völlig anders entwickelt
In genau einem Jahr wird die Bundesrepublik Deutschland
60 Jahre alt, gegründet auf der Verabschiedung eines Grundgesetzes,
das "in Verantwortung vor Gott und den Menschen" gleich im ersten
Artikel sein grundlegendes Selbstverständnis formuliert hat: "Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen
ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt".
Zwischen den beiden Staatsgründungen, den Daten und
Ereignissen, gibt es einen inneren Zusammenhang. Der israelische Staat
ist auf der Asche des Holocaust gegründet, die zweite deutsche Demokratie
auf den Trümmern eines totalitären Regimes, das die Würde
des Menschen in einer beispiellosen Weise angetastet und in einer monströsen
Verbindung von Menschenverachtung und Größenwahn am Ende das
eigene Land politisch, ökonomisch und moralisch ruiniert und Millionen
Opfer zurückgelassen hat.
Es war ein doppelter Glücksfall, dass mit Konrad
Adenauer und David Ben Gurion in beiden Ländern unmittelbar nach
der Staatsgründung die jeweiligen ersten Regierungschefs die Einsicht
und die Größe zu einem völligen Neuanfang hatten.
Zwischen Adenauer und Ben Gurion ist damals das Vertrauen
neu entstanden, das Grundlage einer neuen, immer engeren Zusammenarbeit
und schließlich der Freundschaft zwischen unseren Ländern geworden
ist.
Das heutige Jubiläum ist deshalb auch und vor allem
ein Anlass zur Dankbarkeit; Dankbarkeit für die Arbeit und den Einsatz
all der Frauen und Männer in Israel, die neue Brücken gebaut
und alte Wege wieder gangbar gemacht haben: Politiker, Wissenschaftler,
Unternehmer und Künstler.
60 Jahre Israel ist Anlass zur Freude. Unter außergewöhnlich
schwierigen Bedingungen ist in Israel, gestützt auf eine Entscheidung
der Vereinten Nationen, nicht nur eine Heimstatt der Juden aus aller Welt
entstanden, sondern eine offene, freie Gesellschaft und ein starker demokratischer
Staat: Bis heute die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten.
Und noch beachtlicher als ihr Entstehen erscheint ihre Stabilität
auch unter den existenziellen Herausforderungen aller zurückliegenden
Jahrzehnte.
Schließlich sind 60 Jahre Israel Anlass für
großen Respekt. Respekt für eine herausragende Leistung des
politischen und wirtschaftlichen Aufbaus und einer außerordentlichen
sozialen Integration.
Von damals kaum mehr als 600.000 Einwohnern ist Israel
in 60 Jahren auf eine Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen
gewachsen. Jahr für Jahr werden viele Tausende Zuwanderer aus beinahe
allen Ländern der Welt integriert. Heute lebt etwa die Hälfte
der jüdischen Weltbevölkerung in Israel, einem Staat, an dessen
Gründung nur ein Bruchteil der damals über den Globus verstreuten
Juden aktiv beteiligt war.
Ungetrübt ist dieses Jubiläum gleichwohl nicht,
weder mit Blick auf die innere Verfassung noch die äußeren
Bedingungen:
o Auch sechzig Jahre nach der Staatsgründung hat
Israel noch immer keine gesicherten Grenzen,
o Sieben Kriege hat das Land in dieser Zeit überstehen müssen.
o Bis heute gibt es keinen Frieden mit den Palästinensern.
"Dass wir es nicht geschafft haben, Frieden mit unseren
Nachbarn, den Palästinensern, zu schließen" hat der neue
israelische Botschafter in Deutschland, Yoram Ben-Zeev, vor einigen Tagen
in einem Interview als "größten Fehler in den 60 Jahren"
bezeichnet (Badisches Tageblatt vom 6. Mai 2008).
Wer jemals das Elend der Palästinenser insbesondere
im Gazastreifen gesehen hat, der muss in der Tat auch nach der israelischen
Verantwortung für die aktuellen Verhältnisse fragen. Und natürlich
ist die Frage erlaubt, ob manche Sicherheitsvorkehrungen - zum Beispiel
im Westjordanland mit rund 600 Kontrollposten - nicht eher den Islamismus
fördern als die Friedensbereitschaft auf beiden Seiten.
Und diese Debatte findet statt, nicht nur in der internationalen
Öffentlichkeit, sondern insbesondere unter den Israelis selbst. "Die
Neigung der Mehrheit der Israelis, ein Fortdauern des Konflikts als Teil
des Alltags zu akzeptieren, ist Beleg dafür, wie weit sie sich vom
Idealismus und von den Hoffnungen der ersten Israelis entfernt haben",
schreibt Tom Segev, ein prominenter israelischer Historiker und Publizist
in seinem Artikel "Heiliges verrücktes Land" zum Staatsjubiläum
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Mai 2008).
Der israelische Botschafter in Deutschland hat in seinem
bereits zitierten Interview keine Zweifel daran gelassen, dass auch die
israelische Politik Veränderungen braucht: "Israel kann nicht
für alle Zeit als Besatzer wahrgenommen werden. Das verhindert sonst
wahren Frieden. Es ist besser für uns und unsere Kinder, nicht dauerhaft
Besatzer zu sein (
) Israel wird sich aus dem Westjordanland zurückziehen
müssen. Die Regierung hat beschlossen, keine weiteren Sperranlagen
an der Grenze zu errichten. Diese haben den Palästinensern schon
viel Leid zugefügt. Auch darf Israel keine weiteren Siedlungen in
Ostjerusalem bauen. Wichtig ist nur, dass Israels Sicherheit gewährleistet
ist".
Das eine muss in der Tat so klar und eindeutig sein wie
das andere: Israel muss mit demselben Recht wie seine Nachbarn in international
anerkannten Grenzen leben können, frei von Angst, Terror und Gewalt.
Manches ist verhandelbar, das Existenzrecht Israels nicht.
Ein atomar bewaffneter Staat in seiner Nachbarschaft,
geführt von einem offen antisemitisch orientierten Regime, ist nicht
nur für Israel unerträglich. Die Weltgemeinschaft darf eine
solche Bedrohung nicht dulden.
Deutschland ist nicht irgendein Mitglied dieser Weltgemeinschaft.
Wir haben für die Existenz und die Sicherheit Israels eine historisch
begründete besondere Verantwortung.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies in ihrer denkwürdigen
Rede vor der Knesset vor wenigen Wochen eindrucksvoll unterstrichen.
"Normal" sind die Beziehungen zwischen unseren
Ländern nie gewesen, "normal" dürfen sie nie werden,
sie werden immer ganz besondere sein und bleiben müssen.
Im sechzigsten Jahr des Staates Israel - und ein Jahr
vor dem 60. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland - gibt es dafür
neben bewährten Strukturen neue Signale.
o Über einhundert Städtepartnerschaften gibt
es zwischen deutschen und israelischen Kommunen.
o Dutzende von Hochschul- und Wissenschaftskooperationen.
o Es gibt einen lebhaften, wechselseitig befruchtenden Kulturaustausch,
o und intensive, weiter wachsende Handelsbeziehungen.
Zusätzlich wird es in Zukunft regelmäßige,
jährliche Regierungskonsultationen geben, die Deutschland bislang
nur mit sechs Ländern unterhält, und Israel ab sofort nur mit
einem einzigen: Deutschland. Ausgerechnet Deutschland.
In ihrem Beitrag für die Wochenzeitung des Bundestages
"Das Parlament", hat die Präsidentin des israelischen Parlaments,
der Knesset, Dalia Itzik, unter der mehrdeutigen Überschrift "Am
Anfang war Wüste" einen Satz geschrieben, der unauffällig
daherkommt, aber nichts weniger ist als spektakulär. "Deutschland
ist heute der größte Freund Israels in Europa. Es ist neben
den USA das einzige Land der Welt, das Israel auf sicherheitspolitischer,
militärischer und wirtschaftlicher Ebene hilft."
Freundschaften kann man sich nicht verdienen. Freundschaften
sind ein Geschenk, auf das es keinen Anspruch gibt. Zwischen Deutschland
und Israel schon gar nicht.
Dass unsere beiden Länder heute, nach sechzig Jahren,
nicht nur durch eine beispiellose Vergangenheit miteinander verbunden
sind, sondern auch durch beispielhafte gemeinsame Werte und Orientierungen,
dass sie gemeinsame Interessen für eine gemeinsame Zukunft haben,
das ist das schönste denkbare Geschenk, das wir uns wechselseitig
zum Jubiläum machen können.
Deutschland gratuliert Israel. Dass diese Freundschaft
bestehen bleibt, sich weiter festigt und entwickelt, das ist unser aller
Wunsch zum 60. Geburtstag.
Quelle: DKR
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