"Frieden ist ferner denn je"
60 Jahre Israel: Der Historiker Tom Segev über den neuen religiösen
Wahn im Nahost-Konflikt, die Instrumentalisierung des Holocaust und Angela
Merkels unkritische Haltung gegenüber der israelischen Regierung.
Israel wird 60 Jahre alt und ist trotz aller Probleme
ein hochdynamisches Land. Worauf sind Sie stolz?
Die Israelis leben heute besser als die meisten anderen Menschen dieser
Welt. In internationalen Vergleichstabellen von Unesco, Weltbank und Weltgesundheitsbehörde
- in der Regel so um die 150 Länder - ist Israel immer unter den
ersten 15. In vielen Dingen werden wir als fortschrittlicher als etwa
europäische Länder eingestuft.
In sozialer Hinsicht ist Israel weniger gut: Die Einkommensschere
zwischen Reich und Arm klafft gewaltig auseinander.
Das stimmt. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der
Armen wie der schwerreichen Milliardäre noch mal sehr zugenommen.
Dennoch, Israel ist schon ein Land, das seinen Bürgern eine Lebensqualität
bietet, die höher als in den meisten anderen Staaten ist.
Das wird den Deutschen wundern, dass der Durchschnitts-Israeli
zufrieden ist.
Ziemlich verwunderlich ist noch etwas anderes. Es gibt eine israelische
Identität. In Israel leben Menschen, die aus 100 Ländern kommen
mit unterschiedlichen Sprachen. Irgendwann gucken sie in den Spiegel und
wissen, dass sie zusammengehören. Das ist natürlich auch problematisch.
Israel ist noch immer ein Mosaik aus vielen verschiedenen Identitäten.
Trotzdem hat sich eine israelische Identität herausgebildet. Das
beruht vor allem auf der hebräischen Sprache.
Was ist denn typisch israelisch?
Erstmal das Multikulturelle. Wenn Sie in Deutschland Bahn fahren, sehen
Sie auch viele unterschiedliche Menschen. In Israel ist das aber schon
eher wie in New York. Unabhängig davon gibt es ein neues Phänomen:
Anders als vor zehn Jahren erwidern die jungen Israelis auf die Frage:
"Glaubst du an Frieden?", "Nein". Die meisten wollen
zwar den Frieden. Sie sind bereit, dafür einen gewissen Preis zu
zahlen, aber sie glauben nicht mehr daran. Wenn man dann aber einen jungen
Menschen, der dabei ist, sich eine Existenz aufzubauen, fragt: "Ja,
warum bleibst du dann in Israel?" Dann kommt meist als Antwort: "Weil
ich hier zu Hause bin." Dabei könnten viele Israelis woanders
leben. Sie haben Pässe für die USA oder für Europa. Das
ist eine Errungenschaft des israelischen Staates, dass die Menschen sich
hier heimisch fühlen, und zwar inzwischen in dritter und vierter
Generation.
Sie selbst sind sozusagen mit dem Staat groß
geworden, gehören zu den "ersten Israeli". Das prägt,
oder?
Ich war drei Jahre alt, als der Staat gegründet wurde. Die ersten
Israeli hatten alle den Glauben, dass das Leben nur besser werden kann.
Sie hatten einen Traum, auch wenn sie sich hinter gewissen Mythen versteckt
haben. Die Gründerjahre waren eine ungeheure, eine interessante Zeit,
eine dramatische Geschichte. Ich denke immer, ich wäre gerne damals
Journalist geworden.
1998, als Israel 50 Jahre alt wurde, herrschte in den
Kommentaren der Tenor vor: Keiner stellt mehr die Existenz Israels in
Frage. Inzwischen betont man dauernd Israels Existenzrecht, worin sich
auch das Gefühl der Bedrohung spiegelt. Alte Ängste sind wieder
wach. Zum einen, weil der Friedensprozess nicht so gelaufen ist wie gedacht.
Zum anderen, weil der Iran eine neue existenzielle Gefahr darstellt.
Umso beachtlicher, dass die meisten Israeli trotzdem bleiben. Ähnlich
wie in einem Dorf, das unter dem Vulkan lebt. Man weiß, dass er
irgendwann ausbrechen wird, aber zieht trotzdem nicht weg. In Los Angeles
wissen die Leute auch, dass ein Erdbeben es mal zerstören wird, aber
sie bleiben doch. Die Ängste in Israel, ja sicher, die sind immer
noch sehr stark. In diesem Sinne ist das Leben hier noch nicht normalisiert.
Die meisten Israeli gehen damit erstaunlich gelassen
um. Die Deutschen würden in gleicher Lage vermutlich weit panischer
reagieren.
Ja, fürchterlich, immer diese Angsthysterie in Deutschland. Ich habe
das nie verstehen können. Wenn es nicht die Arbeitslosigkeit ist,
ist es der deutsche Wald, der stirbt, oder sonst was (lacht). Hier in
Israel haben Leute Angst vor einer Atombombe in den Händen der Iraner.
Andererseits, hier gab es immer so eine Angst vor dem Feind, der bedroht.
Als ich aufgewachsen bin, war es der ägyptische Präsident Abed
Dschaml al Nasser. Als sein Nachfolger Anwar al Sadat schließlich
nach Israel kam, war das für uns ein unglaubliches Erlebnis. Jetzt
betrifft die Angst den Iran. Ich bin nicht sicher, ob das eine existenzielle
Angst ist. Viele wissen, dass Israel militärisch sehr gut ausgerüstet
ist. Aber die Sorge ist berechtigt, angesichts eines verrückten Präsidenten
in Teheran, der den Holocaust leugnet und Israel von der Landkarte weghaben
will.
Ist der Iran Israels größte Gefahr?
Mich beschäftigen mehr die Ängste, die sich auf die Palästinenser
beziehen, die sind konkreter. Und zwar in dem Sinne, wie sich das Zusammenleben
mit den Palästinensern gestalten wird. Es gibt die Illusion, dass
alles so bleibt wie es ist. Aber so ist es nicht.
Wie wird Israel in zehn Jahren aussehen? Wird der Nahost-Konflikt
vorbei sein?
Ich kann mir die Zukunft schlecht vorstellen. Ich bin nicht so gut darin.
Alles was ich gedacht habe, was passieren würde, ist nicht eingetreten.
Ich bin politisch sozialisiert worden nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967,
in einer Generation, die an Frieden geglaubt hat. Damals hätte ich
gesagt, 2008 haben wir schon längst Frieden mit den Palästinensern.
Allerdings nicht mit Ägypten, das war damals ein ferner Traum.
Haben Sie 1967 schon eine Zwei-Staaten-Lösung
gewollt?
Ja, von Anfang an. Ich empfinde mich manchmal schon als ein bisschen dumm,
weil ich mich seit 40 Jahren irre. Wie die Leute in der DDR, denen man
nach dem Mauerfall sagte, alles, woran ihr 40 Jahre lang geglaubt habt,
stimmt nicht mehr. Ich habe früher damit gerechnet, dass wir lange
vor 2008 die eroberten Gebiete zurückgeben und ein palästinensischer
Staat entsteht. Stattdessen kam ein Krieg und noch ein Krieg. Und nun
ist Frieden ferner denn je, weil die Situation viel komplizierter geworden
ist.
Komplizierter wodurch?
Hauptsächlich durch die Westbank-Siedlungen, die weiter wachsen.
Auf welcher Grundlage soll ein 18-jähriger Palästinenser an
Frieden glauben? Zudem ist der Konflikt viel religiöser geworden,
als er früher war. Die Siedler einerseits, die Hamas andererseits:
Das ist kein säkularer Konflikt mehr, der sich am Verhandlungstisch
lösen lässt. Das kommt jetzt alles vom Herzen. Vom Glauben.
Von irgendwelchem religiösen Wahnsinn. Ich denke jedenfalls nicht,
dass wir in zehn, 20 Jahren Frieden haben. Den Glauben an Frieden gibt
es auf beiden Seiten nicht.
Ist das nicht vor allem ein Problem der politischen
Führung? Den Friedensprozess von Annapolis nehmen die Bevölkerungen
auf beiden Seiten nicht ernst. Wäre das anders, wenn es heute einen
David Ben-Gurion gäbe?
Oder einen Ariel Scharon oder einen Menachem Begin, was weiß ich?
Die jetzige Führung ist nur interessiert an politischem Überleben.
Ehud Olmert ist ein absolut zynischer, professioneller Politiker, alles
andere als ein Staatsmann. George W. Bush eigentlich auch. Jetzt haben
wir seit Annapolis dieses fiktive Datum für Frieden. Bis Ende des
Jahres. Ich habe im Kalender nachgeschaut. Der 31. Dezember ist ein Mittwoch,
wir müssen nur noch sehen, ob der Frieden vormittags oder nachmittags
kommt. Das ist alles so blödsinniges Zeug, was die Amerikaner und
Olmert da verkaufen. Es gibt auch keine Opposition in Israel, nur eine
schwache Linke und eine lautstarke und extreme Rechte. Der 31. Dezember
wird kommen und gehen und nichts ändern.
Olmert hat gesagt, Israel wäre erledigt als jüdischer
Staat, wenn es in absehbarer Zeit keine Zwei-Staaten-Lösung gibt.
So ungeschönt hat kein Regierungschef vor ihm die Lage beschrieben.
Was Olmert sagt, ist richtig, aber er handelt nicht entsprechend. So steuern
wir auf noch mehr Apartheid zu, als wir sowieso schon haben. Zu Israels
Gunsten spricht dabei nur, dass vieles als Provisorium angelegt ist und
nicht wie früher in Südafrika als dauerhaftes System. Dennoch,
entweder kommt es zu weiterer Unterdrückung der Palästinenser
oder zu einer bi-nationalen Lösung, die bedeutet, dass Israel kein
jüdischer Staat mehr ist.
Verdrängt man das?
Nein, das sind alles Dinge, die jeden Tag diskutiert werden, in der Presse,
in der Knesset, im Fernsehen. Was man verdrängt, ist die schlimme
Situation der Palästinenser. Die Unterdrückung, die täglichen
Rechtsverletzungen. Die Verdrängung wird natürlich erleichtert
durch die Kassem-Raketen, die täglich in Richtung Sederot abgeschossen
werden. Aber die ständige Diskussion, dass Israel womöglich
auf Dauer kein jüdisch-demokratischer Staat bleiben wird, gehört
fast schon zur israelischen Identität.
Meinen Sie damit, dass Israel ein sehr etabliertes
Provisorium ist?
Also, wir haben bis heute keine definierten Grenzen. Auch etwas Typisches
für Israel. Für mich ist Israel ein Experiment, das noch nicht
gelungen und noch nicht gescheitert ist.
Im Ausland erzeugt Israel entweder große Bewunderung
oder stößt auf heftige Kritik. Woran liegt das?
Ich glaube, beides ist sehr übertrieben. Warum Israel so starke Gefühle
auslöst, fällt mir nicht leicht zu beantworten. Meistens liegt
es wohl daran, dass es sich um das Heilige Land handelt, mit dem jeder
Mensch etwas verknüpft. Obendrein ist Israel eine starke atomare
Macht. Dazu rechnet man Israel zum Westen, obwohl es sich im Hinterhof
der Welt befindet. Es ist eine Kombination von vielem. Es ist auch ein
Konflikt zwischen zwei Systemen von Gerechtigkeit.
Die Juden, die ihren eigenen Staat bekommen haben
und die Palästinenser, die ihn verloren haben. Beider Identitäten
sind vom Land abhängig, und zwar vom ganzen Land. Das macht es so
dramatisch.
In Deutschland kommt das Bedürfnis nach Frieden
hinzu, nicht zuletzt aus deutschen Schuldgefühlen resultierend. Daran
angeknüpft: Der Holocaust gilt als wesentlicher Teil der israelischen
Identität. Ist dieses Element nicht sogar noch stärker geworden?
Es hat sich ein bisschen geändert - soziologisch und politisch, aber
es geht sehr tief. Bei den Ultraorthodoxen zum Beispiel gibt es eine neue
Erscheinung. Noch vor zehn Jahren haben die Frommen den Holocaust ausgeblendet,
um die Frage zu vermeiden: Wo war Gott? Heute ist die Erinnerung an die
Shoa ein all-jüdischer Teil der Identität geworden. Wenn man
Schüler in Israel fragt: "Bist du ein Nachkomme von Überlebenden?",
dann sagen acht von zehn: "Ja." Das ist doch unwahrscheinlich!
Die Großeltern kamen womöglich aus Marokko. Hinzu kommt, dass
die meisten Überlebenden, die es heute noch gibt, zur Zeit des Holocaust
Kinder waren. Das führt dazu, dass der Holocaust immer mehr als ein
Verbrechen gegen Kinder dargestellt wird. Es gibt keinen Tag, an dem der
Holocaust nicht mindestens in einer Zeitung erwähnt wird.
Man spricht mit Blick auf den Iran auch vom möglichen
atomaren Holocaust. Ist das nun eine Instrumentalisierung oder reale Angst
im jüdischen Staat?
Es gibt beides: Der Holocaust wird öfter instrumentalisiert, sowohl
von rechts als auch von links. Aber es ist auch etwas Echtes: Im Rückblick
auf 1967, den Vorabend des Sechs-Tage-Krieges, wird oft gesagt, dass der
Holocaust furchtbar instrumentalisiert wurde. Ich habe in den USA Briefe
gesammelt, die Israeli damals an Verwandte und Freunde geschrieben haben.
Ungefähr 500 Stück. In einem Brief des Auswärtigen Amtes
an Stellen in Washington wird Nasser als neuer Hitler hingestellt - eine
Instrumentalisierung. Aber die Briefe, die Israelis in die USA schickten,
zeugen von einer ganz starken Angst vor neuer Vernichtung.
In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung
war das Thema Holocaust aus der öffentlichen Diskussion verdrängt.
Weil Holocaust-Überlebende nicht mit dem Ideal des kämpferischen
Hebräers vereinbar waren. Was brachte die Wende?
Bis zum Eichmann-Prozess 1962 war es ein großes Schweigen. Die Kinder
haben sich geschämt zu fragen. Heute besteht kein Zweifel, dass der
Holocaust in der israelischen Identität verwurzelt ist. Als die ersten
Verträge zwischen Israel und Deutschland 1952 geschlossen wurden,
hat man eingewendet, dass dies dazu führen würde, dass der Holocaust
vergessen wird. Das Gegenteil war der Fall.
Herr Segev, wie sehen Sie heute die deutsch-israelischen
Beziehungen? In einem Kommentar zum Israel-Besuch von Angela Merkel Mitte
März haben Sie geschrieben, ihre Knesset-Rede habe wenig vom israelischen
und deutschen Diskurs widergespiegelt.
Ja, das kam mir so vor wie aus den 50er Jahren. Ich kann Ihnen verraten:
Ich habe mich darüber mit Ihrem Außenminister, Herrn Steinmeier,
beim Kaffee unterhalten. Steinmeier hat einen ganz anderen Hintergrund:
Er hat die 60er und 70er Jahre in Westdeutschland erlebt, all die Diskussionen
- und hat ein differenziertes Verhältnis zu Israel. Für Frau
Merkel ist das Thema relativ neu, weil sie aus der DDR kommt, wo man Israel
überhaupt nicht behandelt hat. Ihre Rede ging völlig an der
Realität vorbei.
Wofür genau kritisieren Sie die Bundeskanzlerin?
Frau Merkel hat Israel, nein, richtig gesagt: die Regierung
Israels völlig kritiklos gewürdigt. Dabei gibt es in Israel
eine große Diskussion über die Politik der Regierung, weit
offener, schmerzhafter, manchmal gewalttätiger. Aber nein, Frau Merkel
bedient alle diese mythologischen Klischees. Das hört sich dann an,
als wäre es von der Internetseite des israelischen Auswärtigen
Amts abgelesen.
Interview: Inge Günther
Zur Person
Tom Segev hat Zeit, was selten genug vorkommt. In ein paar Stunden beginnt
der Sabbat. Der sonst so dröhnende Verkehr in Jerusalem lässt
merklich nach. Es ist auch die Zeit, die Tom Segev (63) für Interviews
daheim bei sich bevorzugt. Von seinem Wohnzimmerfenster im sechsten Stock
hat man einen weiten Blick über den Südosten Jerusalems bis
in die Judäische Wüste hinein. Durch die Hügel schlängelt
sich ein Betonband - die neue Mauer, die Tom Segev nicht nur wegen der
Aussicht stört.
Der Historiker und Publizist nimmt Platz in einem alten
Sesseln, der einst im Fotogeschäft seiner Mutter stand. Ein Herrensessel
für Porträtaufnahmen. Segevs Mutter, Ricarda Schwerin, hat mit
dieser Arbeit sich und den Sohn finanziert. Geboren war sie in Göttingen
und wie ihr späterer Mann 1935 aus Nazi-Deutschland nach Palästina
geflohen. Segevs Vater starb 1948 im israelischen Unabhängigkeitskrieg.
Die Geschichte Israels hat Segev auch deshalb nie losgelassen.
Er zählt zu den herausragenden Köpfen der Neuen Historiker,
die sich an eine kritische Neubewertung des Zionismus wagten.
Literatur: In deutscher Übersetzung ist von Tom Segev
u.a. erschienen:
"Die ersten Israelis. Das Land der Juden nach der
Staatsgründung", Siedler-Verlag 2008. "Es war einmal ein
Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels",
Siedler-Verlag 2005. "Die siebte Million. Der Holocaust und Israels
Politik der Erinnerung", Rowohlt 1995.
Frankfurter Rundschau, 02.05.2008
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