Mit anderen Augen
60 Jahre Israel - das bedeutet auch 60 Jahre Vertreibung der Palästinenser
von Inge Günther
Nachmittags, kurz vor vier in West-Jerusalem. Am Treffpunkt
im Viertel Givat Schaul finden sich nach und nach die Teilnehmer ein,
die sich auf die Spurensuche nach der Vergangenheit machen wollen. Besichtigungstouren
werden in Jerusalem jede Menge angeboten. Aber diese ist anders. Zochrot
hat eingeladen. Die Organisation, deren hebräischer Name Erinnern
bedeutet. Zochrot will ins Bewusstsein rufen, was im modernen Israel lieber
verdrängt wird. Dass im Zuge der Staatsgründung nicht nur Heldenhaftes
geschah, sondern dass ein paar hundert arabischer Dörfer zerstört
und Hunderttausende Menschen vertrieben wurden. Die interessierte Klientel
ist nicht eben typisch für den israelischen Mainstream.
Als der Reisebus aus Tel Aviv vorfährt, klettern
kaum mehr als ein Dutzend Zochrot-Anhänger heraus. Im Gepäck
haben sie schwarze Gedenktafeln, darauf 93 Namen in Arabisch und Hebräisch.
Ein Passant schüttelt den Kopf. "Das ist was für Linke",
schimpft er. Er meint die Beschäftigung mit "al-Nakba",
dem palästinensischen Drama von Flucht und Vertreibung im Jahr 1948.
Nakba heißt Katastrophe. Der öffentliche Diskurs in Israel
blendet das Thema meist aus. In den Schulen ist mehr über die römische
Herrschaft zu erfahren, als über die neuzeitliche Geschichte im Mandatsgebiet
Palästina.
Darüber spricht man nicht
Jeder Jerusalemer etwa kennt das Stadtviertel Givat Schaul
wegen der Großbäckerei Angel. Ebenso bekannt ist die städtische
Psychiatrie. Auf deren Gelände stehen alte Steinbauten mit schönen
Fensterbögen. Doch dass sie einst den Kern des arabischen Dorfes
Deir Yassin bildeten, darüber spricht man nicht. Deir Yassin erinnert
auch an ein unrühmliches Kapitel aus den Gründerjahren: Das
Massaker vom 9. und 10. April 1948, begangen von den beiden radikalen
jüdischen Untergrundmilizen Irgun und Lehi an den palästinensischen
Bewohnern, darunter Frauen, Kinder, Alte.
Auf dem Spaziergang an diesem Nachmittag durch Givat Schaul
haben einige deshalb schwarze T-Shirts übergestreift. "Erinnern
an al-Nakba" ist in weißen Lettern aufgedruckt. Auch Eitan
Bronstein trägt so ein Hemd. Er hat vor sechs Jahren Zochrot gegründet.
Weil ihm als Tourführer einer links-alternativen Friedensschule missfiel,
dass auf historischen Schildern jeder Hinweis auf eine frühere palästinensische
Existenz fehlte. Zum Beispiel in den nationalen Landschaftsparks. "Man
erfährt eine Menge darüber, dass Römer, Byzantiner und
Türken mal da waren", sagt Bronstein. "Aber kein Wort,
dass es dort bis vor 60 Jahren palästinensische Ansiedlungen gab."
Lange Zeit war das ein Tabu. Allmählich bricht etwas auf, glaubt
Bronstein. Dauernd riefen Studenten an, um über Zochrot für
eine Examensarbeit zu recherchieren. Auch Lehrer fragten, ob es Unterrichtsmaterial
zu den zerstörten Dörfern gebe.
Bronstein stammt aus Argentinien, kam im Alter von fünf
Jahren nach Israel. Er ist Ende 40, hat Kritische Theorie studiert, saß
wegen Einsatzverweigerung im Libanonkrieg von 1982 im Militärgefängnis.
Seinen israelischen Landsleuten sagt er, dass "uns der Himmel nicht
auf den Kopf fallen wird, wenn wir zugeben, dass wir damals die Araber
rausgeschmissen und ihre Dörfer zerstört haben". Zochrot
legt Wert darauf, dass stets palästinensische Zeitzeugen mitkommen
bei den Erkundungstouren zu den Ruinen der Dörfer. Es wird jeweils
ein Schild aufgestellt, auf dem der alte arabische Dorfname geschrieben
ist. Lange zu sehen bleibt so ein Hinweis selten. "In Haifa hielt
sich einer mal vier, fünf Wochen", sagt Bronstein. Aber meist
reiße irgendein verärgerter Anwohner so ein Schild nach ein
paar Stunden wieder ab.
Bronstein seufzt. Er hat sich vor einiger Zeit im rheinischen
Brühl die "Stolpersteine" angesehen, die an das jüdisches
Leben in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg erinnern. "Für
mich war das eine enorme Inspiration", sagt er. "Aber anders
als Israel befindet sich Deutschland auch nicht im Konflikt." Ohne
die nicht-staatliche Unterstützung aus Europa wäre Zochrot freilich
nicht, was es heute ist. Eine Organisation, die historische Spurensuche
betreibt, eine mehrsprachige Webseite (www.zochrot.org) unterhält
und das Magazin Sedek (Lücke) herausgibt. Auch Medico International
hilft bei der Finanzierung. "Weil Zochrot nicht auf monumentale Erinnerungskultur
macht", wie es Tsafrir Cohen, der Jerusalemer Medico-Leiter, ausdrückt.
"Es ist ein Angebot an Israelis, die Vergangenheit mit anderen Augen
zu sehen. Dadurch verändert sich die Einstellung in der Gegenwart."
Beim Streifzug durch Givat Schaul ist auch der 82-jährige
Palästinenser Abu Hassan dabei. Um den Kopf die traditionelle Keffijeh
geschlungen, übernimmt er die Führung. Er ist aufgewachsen in
Deir Yassin und lebt heute im Ostteil Jerusalems. Mit seinem geschnitzten
Gehstock sticht er in die Luft, wenn er die wachsende Begleitschar auf
Überreste der Vergangenheit aufmerksam macht. Die zerfallenen Gemäuer
dort drüben, erzählt er, gehörten einst zu einem Haus,
in dem ein 15-Jähriger starb, als die berüchtigten Irgun- und
Lehi-Truppen anrückten. Und schräg gegenüber hätten
sich 35 Bewohner aus Deir Yassin verschanzt, die mit Ausnahme von zweien
alle umgekommen seien.
Heute stehen dort das Amt für Statistik und ein Einkaufszentrum.
Nichts erinnert an ein Massaker. Doch durch genaueres Hingucken wird sichtbar,
was man zuvor nicht wahrgenommen hat: die von Gras und Kakteen überwucherten
Mauern, der alte Feigenbaum neben einem Steinhaufen, das kleine arabische
Haus, auf dessen Flachdach ein riesiger Chanukka-Leuchter montiert ist.
Im Schatten klotziger Kästen aus den 60er Jahren und post-moderner
Glasbauten fallen die Überbleibsel von Deir Yassin nur nicht weiter
auf.
Wir umso mehr. Eine Anwohnerin schreit wütend herüber:
"Aravim ha-beita" - Araber, haut ab nach Hause. "Das ist
genau das, was sie gerne tun würden", ruft Kerstin Säverger
zurück und freut sich über die Pointe. Säverger arbeitet
als Physiotherapeutin in Hadera. Sie findet, dass Israel sich nicht so
abschotten solle. "Man kann doch nicht das ganze Leben wie in einem
Militärcamp verbringen."
Zochrot versteht sich als Versöhnungsinitiative.
Nicht wenigen Israelis macht das Angst. Sie fürchten, die jüdische
Mehrheit im Staate Israel zu verlieren. Besser nicht an offene Wunden
rühren. Die Leute von Zochrot indes meinen, dass ohne Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit eine bessere Zukunft nicht möglich ist.
Bilder unter Verschluss
Mit dieser Einstellung ist Neta Shoshani sogar vors Oberste
Gericht gezogen. Unterstützt von der Zeitung Haaretz versucht die
junge Frau aus Tel Aviv, das Militärarchiv auf Herausgabe der Fotos
vom Geschehen in Deir Yassin im April 1948 zu verklagen. Als visuelle
Medienkünstlerin ist sie "einfach neugierig, warum keiner diese
Bilder zu sehen bekommen darf". Dass Fotos existieren, weiß
sie von Mitgliedern der Haganah, dem Vorläufer der israelischen Armee.
Sie gehörten der Abteilung an, die dem Blutbad in Deir Yassin ein
Ende setzte. "Erst umgingen sie das Thema wie einen dunklen Flecken.
Am Ende haben sie mir selbst Kamerapositionen detailliert geschildert."
Das israelische Recht sieht eine Archivöffnung nach 50 Jahren vor.
Die Armee ist davon bislang ausgenommen. Neta Shoshani sieht darin keinen
Sinn. "Das Massaker ist 60 Jahre her. Die Welt hat seitdem einiges
mehr erlebt."
Schwitzend ist die alternative Prozession auf dem Hügel
neben der Psychiatrie in Givat Schaul angelangt. Auf seinen Stock gestützt
erzählt Abu Hassan von den beiden letzten Tagen in Deir Yassin. Auch
Hadscha Zainef und eine andere alte Frau berichten Schlimmes von damals.
Dann tippen die israelischen Polizisten, die die Kundgebung absichern,
auf die Uhr. Sie drängen zum Aufbruch.
Frankfurter Rundschau, 22.04.2008
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