Ist die Idee des Zionismus heute noch aktuell?

Pro

von Robert Guttmann

Viele sind der Meinung, nur weil der jüdische Staat Realität geworden ist, soll sich die zionistische Idee überlebt haben. Das ist zu einfach gedacht. Diese falsche Schlussfolgerung ist etwa so logisch wie die Behauptung, dass sich der Weltfrieden einstellen werde, nur weil es die Vereinten Nationen gibt.

Natürlich war und ist die Verwirklichung des Traumes, dass die Juden einen eigenen Staat haben, ein wesentliches Element zionistischer Überzeugung. Aber Zionismus in der heutigen Zeit bedeutet viel mehr. Wir Zionisten wollen die jüdische Geschichte in Israel und in der Diaspora weiter fortschreiben. Für Zionisten - ob sie nun in Israel oder in Deutschland oder sonstwo leben - ist der jüdische Staat Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Freiheit und Sicherheit, aber auch nach geistiger Stärkung jüdischer Überzeugungen, die in Religion, Geschichte und Tradition ihre Wurzeln haben.

So hat der politische Zionismus im 19. und 20. Jahrhundert weder das Konzept selbst noch die Praxis der Rückkehr nach Zion erfunden. Vielmehr nahm er eine durch die Jahrhunderte kontinuierlich verlaufende Bewegung auf und passte sie den Bedürfnissen und dem Geist seiner Zeit an. Nichts anderes tut der Zionismus auch heute.

Der moderne Zionismus basiert dabei auf vier Grundsätzen: Erstens: die Definition der Juden als ein Volk, zweitens: die Einsammlung der Zerstreuten als ein vor allem ideelles, aber auch als existenzielles Gebot, drittens: die gemeinsame Verantwortung für den Fortbestand des jüdischen Volkes und viertens die Erkenntnis, dass Israel der Staat des gesamten jüdischen Volkes ist.

Vor allem die beiden letzten Grundsätze konnten sich erst nach der Staatsgründung so richtig entwickeln. Israel ist der Staat des gesamten jüdischen Volkes und nicht nur der Staat der dort lebenden Juden. In dieser prinzipiellen Erkenntnis ist auch die historisch unlösbare Partnerschaft zwischen Israel und den Juden weltweit begründet. Sie ist auch die Wurzel des Gefühls der Verantwortung, die Israel für das Schicksal der Juden in der Diaspora empfindet. Jeder Jude kann sich darauf heute verlassen. Niemand muss und wird sich mehr in einer so ausweglosen Situation befinden, wie es nach 1933 in Deutschland und Europa der Fall war. Wir Zionisten sind überzeugt, dass der Bestand des jüdischen Volkes weltweit in Gefahr wäre, wenn es ihm nicht gelänge, sich als souveränes Volk, das zum größten Teil im eigenen Land lebt, zu behaupten. Dabei ist es in der modernen zionistischen Denkweise nicht zwingend notwendig, dass jeder Jude auch tatsächlich in Israel lebt. Viel wichtiger ist, dass der Zionismus die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Israel und der Diaspora betont und aus dieser Betonung heraus gleichzeitig jüdisches Leben in beiden Teilen weiterentwickelt.

Zionisten setzen sich heute für die Sicherung der Existenz Israels ein, gleichzeitig aber auch für die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft weltweit, zum Beispiel in Ländern, in denen jüdisches Leben gefährdet ist. Sie helfen, in ihren Heimatländern zum Verständnis für Israel beizutragen. Und sie tragen dazu bei, dass jüdische Erziehung die Bedeutung der Existenz eines jüdischen Staates an die nachfolgenden Generationen vermittelt. Sie sind stolz auf "ihren" Staat, auch wenn sie sich in verschiedenen politischen Lagern befinden. Eines ist ihnen aber in jedem Fall gemeinsam: die Überzeugung, dass ihr Zionismus auch in Zukunft Identität und Lebensweise der jüdischen Gemeinschaft weltweit mitbestimmen wird.

Contra

von Hanno Loewy

Ist der Zionismus noch aktuell? Wäre er es, umso schlimmer für Israel. 60 Jahre alt und immer noch kein Staat. Denn so sehr Ideologien helfen mögen, eine Staatsgründung zu legitimieren, so unmöglich können Staaten ihre Existenz auf eine Ideologie stützen. Ideologien sind gut für ihre Anhänger, aber ein Staat hat keine Anhänger, sondern Bürger. Ideologien sind gut für ein Projekt, aber ein Staat ist kein Projekt, sondern eine Körperschaft, seine Bürger sind keine Versuchskaninchen. Über das Verhältnis eines Staates zu seinen Nachbarn entscheidet nicht, welche Ideologie richtig oder falsch ist, sondern die Einhaltung von völkerrechtlichen Maßstäben. Über den Beitritt zu einem Projekt entscheiden Glaube oder Ideologie, Vereinsvorstände oder Geistliche, aber über den Erwerb einer Staatsbürgerschaft ein Staat und seine Institutionen. Israel will alles auf einmal, den Kuchen aufessen und ihn behalten.

Im Konflikt mit den Palästinensern ergibt sich daraus eine schmerzhafte Ungleichzeitigkeit. Das palästinensische Projekt ist noch immer Ideologie und kein Staat. Das macht es so schwer, Gewalt mit Gewalt zu vergleichen. Wenn palästinensische Selbstmordattentäter sich und ihre Opfer in die Luft sprengen, dann ist es Terror und gehört vor israelische Gerichte. Wenn Israel gezielte Tötungen von Terroristen und Unschuldigen in ihrer Nähe vornimmt, dann ist das eine Verletzung internationalen Rechts und gehört vor einen internationalen Gerichtshof. Diese unterschiedliche Wahrnehmung ist nicht "ungerecht", sondern Ausdruck ebenjener Normalität, von der der Zionismus behauptet hat, sie doch gerade erreichen zu wollen. Und die er seit 1948 durch sein Fortbestehen täglich torpediert.

Dan Diner hat einmal geschrieben, dass Israel drei verschiedene Legitimationen besitzt, von denen leider nur eine von seinen Nachbarn akzeptiert werden und vor den Standards des internationalen Rechts bestehen kann. Israel kann sich auf die Katastrophe der Schoa beziehen, sich als Ergebnis von Auschwitz legitimieren. Das Holocaust-Museum Yad Vashem verkündet die Botschaft mit größter Eloquenz: der Weg von der für immer zerstörten Diaspora durch die Katastrophe, hin zu einem triumphalen Balkon, der über das Land "haArez" einen herrschaftlichen Panoramablick bietet. Doch solch ein Anspruch kann niemals Frieden mit jenen bringen, deren Land dieser Panoramablick eben auch erobert. Und so paradox es ist: Es ist doch kaum zu leugnen, dass genau diese Verwandlung von Auschwitz und Antisemitismus in eine Mythologie der Staatsgründung den Antisemitismus attraktiv macht für jene, die dieser Panoramablick ausschließt: die Palästinenser und die arabischen Nachbarn.

Seit der Besetzung der Westbank konkurrieren mit dieser negativen Begründung die "positiven" biblischen Prophezeiungen, die Erinnerung an die Tempelherrschaft, die apokalyptisch-messianischen Endzeitvisionen von der Wiedererrichtung eines Gottesstaates. Dass orthodoxe jüdische Sekten und nationalistische Eiferer, die im Windschatten der Besatzung aus einem noch irgendwie verhandelbaren Territorialkonflikt damit vollends einen Kampf der Endzeit gemacht haben, ist das eine. Dass sie - und die israelische Gesellschaft, die sie dabei als Geisel nehmen - dabei letztlich nur nützliche Idioten jener christlich-evangelikalen Bewegungen sind, die das Ende der Zeiten herbeiführen wollen, ist das andere. Dieses ideologische Projekt führt Israel zwischen die Mühlsteine eines herbeigeredeten Kulturkriegs zwischen Orient und "christlichem Abendland".

Was bleibt, ist, so Dan Diner, etwas scheinbar ganz Banales und Langweiliges - aber das Einzige, was auch gegenüber seinen Nachbarn und dem internationalen Recht Israels Existenz legitimieren und damit sein Überleben tatsächlich sichern kann. Es ist das Recht Israels auf Staatlichkeit und Souveränität, weil es existiert. Das Recht des Statuts quo. So wie auch andere Staaten ein Lebensrecht genießen, weil sie existieren und eben nicht, weil sie eine welthistorische Mission erfüllen. Das schließt ein, an bestimmten jüdischen Grundlagen einer israelischen Kultur festzuhalten, den demografischen Status quo einer jüdischen Mehrheit anzuerkennen ohne ihn zu ideologisieren. Und es bedeutet zugleich, die Konkurrenz zwischen Israel und der Diaspora aufzugeben - ja, es bedeutet, anzuerkennen, dass Israel ein Teil der Diaspora ist, mindestens ebenso, wie Juden in der Diaspora zu Israel immer ein besonderes Verhältnis haben werden.

Die Alternative dazu erleben wir heute jeden Tag. So sehr die jüdische Existenz in der Diaspora davon lebt, die universelle Geltung des Rechts zu stärken - das Gesetz zu verbreiten, für das Moses eine Zeitlang sogar sein Volk allein ließ -, so sehr erleben wir heute den Zynismus, sich zwar auf internationales Recht zu berufen, es aber selbst immer wieder zu missachten - etwa, wenn es um den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten geht. Das selbstgerechte "Wir und die anderen, die uns immer nur verfolgen" hat schon manche israelische Regierung in zynischer Weise als Argument für die "Alija" benutzt. Dazu Nein zu sagen, sollte uns gerade dann leichter fallen, wenn wir das historische Recht des Zionismus nicht durch seine Karikatur der Gegenwart verächtlich machen wollen.

Jüdische Allgemeine, 15.5.2008

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