Drei Bücher über das heutige Israel
von Carsten Hueck

"Wenn ihr es wollt, ist es kein Traum" - mit diesen Worten hatte der Wiener Publizist Theodor Herzl die Juden Ende des 19. Jahrhunderts zur "Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina" aufgerufen. Als David Ben Gurion im Mai 1948 in Tel Aviv den Staat Israel proklamiert, scheint der Traum Wirklichkeit geworden zu sein. Doch wie ist diese Wirklichkeit heute beschaffen? Gleich drei Autoren liefern eine ungeschminkte Bestandsaufnahme. Zwei Männer und eine Frau, alle in den 1960er-Jahren geboren, porträtieren das Land, mit dem sie auf unterschiedliche Weise verbunden sind. Alle drei sind erfahrene, kritische Journalisten. Engagiert in der Sache, scheuen sie sich nicht, vor allem Israels Schwierigkeiten mit sich selbst darzustellen. 60 Jahre - für einen Staat heißt das wohl, mitten in der Pubertät zu sein.

Sylke Tempel, in Bayreuth geboren - was ihr an israelischen Checkpoints des öfteren den Vorwurf einbrachte, aus dem Libanon zu stammen (Beirut!) - reiste in den 80er-Jahren zum ersten Mal nach Israel. Von 1993 an, "der euphorischen Zeit nach Abschluss des Osloer Grundsatzabkommens", lebte sie dort zehn Jahre als Nahostkorrespondentin. Sie sah mit an, wie der Friedensprozess ins Stocken geriet, Yitzak Rabin ermordet wurde und die zweite Intifada ausbrach. In ihrem Buch Israel beschreibt sie anhand persönlicher Begegnungen den Zustand von Land und Einwohnern. Den Nahostkonflikt klammert sie bewusst aus. Ein Versuch, "Israel noch einmal neu kennenzulernen, es nicht mit dem Blick der Korrespondentin zu betrachten". Eine Reportage der besonderen Art ist entstanden: informativ, unbefangen, respektvoll. Ein Reisebericht, der sich nicht mit Aktualität begnügt, sondern "gleichsam durch alle Schichten der jüdischen Historie hindurchführt". Ihre subjektiven Eindrücke verknüpft Tempel mit Wissen um Geschichte und Kultur des Landes. Sie reist vom Sinai durch den Negev, in Kibbuzim und Siedlungen, nach Jerusalem und Metulla. An der Küste entlang, unter Herzls Konterfei an der Autobahn, nach Tel Aviv, ins Café Mersand. Sie trifft Beduinen, Siedler, israelische Araber, russische Einwanderer. Unter ihnen einer, der im Grenzdreieck zwischen Syrien und Libanon Israels einzige olympiataugliche Eisporthalle betreibt.

Während Tempel ihre Reiseimpressionen mit Hinweisen auf biblisches Geschehen mischt - entsprechend dem Untertitel ihres Buches Reise durch ein altes neues Land -, verweist Michael Borgstede, Nahostkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, vor allem auf Fakten jüngerer israelischer Geschichte. Borgstede ist Musiker. Erfolgreich spielt er Cembalo, war bereits an über 30 CD-Produktionen beteiligt und ist Spezialist für Fragen historischer Aufführungspraxis. Er lebt in Tel Aviv und ist mit einer Israelin verheiratet. Mit seinem Buch Leben in Israel - Alltag im Ausnahmezustand liefert Borgstede ein umfangreich recherchiertes Panorama israelischer Wirklichkeit, das nicht vor Tabuthemen zurückschreckt. Des Autors Hauptinteresse gilt dem spannungsvollen Miteinander der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, "die alle Israelis sind und die doch in vollkommen unterschiedlichen Welten leben".

Bereits mit der Unabhängigkeitserklärung von 1948 tut sich für Borgstede der Widerspruch zwischen säkularem und religiösem Verständnis des Staates auf. "In absichtlicher Zweideutigkeit" heißt es darin: "Mit Zuversicht auf den Fels Israels setzen wir unsere Namen unter diese Erklärung." Die Vertreter der religiösen Parteien hatten zuvor auf der Formulierung "Gott Israels" bestanden, die sozialistisch- säkularen Zionisten sahen ihr Recht auf Nichtgläubigkeit dadurch gefährdet. "Fels Israels" war ein Kompromiss in letzter Minute. Der Fels Israels war den Realpolitikern fester Boden, den Torakundigen ein Synonym Gottes. Details wie diese machen Borgstedes Buch spannend und unterhaltsam. Er öffnet Hintergründe zum Verständnis aktueller Konflikte und macht deren Vielschichtigkeit transparent. Kenntnisreich führt Borgstede den Leser in die israelische Klubszene und in die Welt der über 150.000 Fremdarbeiter. Er stellt eine Studie vor, nach der 35 Prozent der zwölf- bis 18- jährigen Israelis Theodor Herzl für den ersten Präsidenten ihres Landes halten, oder zitiert einen amerikanischen Einwanderer, der ausschließlich gekommen ist "zum Araber verdreschen und um eine Israelin zu heiraten". Wie Sylke Tempel weigert sich auch Borgstede dezidiert, sein Israel-Porträt durch die Folie des Nahostkonfliktes zu betrachten. Umso bunter ist es, umso mehr Schattierungen sind auszumachen. Holocaustüberlebende kommen zu Wort, entwurzelte jemenitische Juden, Prostituierte aus Ländern der ehemaligen GUS, Drusen, Orthodoxe und israelische Neonazis. 60 Jahre nach Staatsgründung, resümiert Borgstede, sei Israel nicht besonders idyllisch. Doch dafür sehr lebendig und heterogen wie eh und je.

Eine Sichtweise, die er mit Igal Avidan teilt. Der ist auch Korrespondent, allerdings in Berlin. In Tel Aviv geboren, arbeitetet Avidan für israelische Tageszeitungen wie auch für renommierte deutsche Blätter. Avidans Israel - Ein Staat sucht sich selbst ist das radikalste, letztlich politischste der drei Bücher. Ausdrücklich stellt der Autor zu Beginn die Frage: "Wird Israel noch weitere 60 Jahre existieren?" Der Politikwissenschaftler offenbart die "Fehlstrukturen" der jüdischen Demokratie, benennt, was faul ist im Staate Israel. Dessen Geburt bezeichnet er als "Kaiserschnitt". 80 Interviews hat Avidan in sein Buch eingearbeitet. Es zeigt ein "Röntgenbild" Israels, "jenseits der gängigen Klischees von frommen Rabbis und sexy Soldatinnen". Avidan trägt seine Diagnose zum Zustand des Landes sachlich vor. Sie ist dennoch beunruhigend. Aktuelle Zahlen und Dokumente klären über Versäumnisse, Fehlentwicklungen und Verdrängungen der israelischen Politik auf. Der Autor informiert über all das, was auch hierzulande in der Berichterstattung über Israel weitgehend untergeht. Beispielsweise, was Israelis überhaupt von Arabern wissen und wie gering sie die eigene Verantwortung für das palästinensische Flüchtlingsproblem veranschlagen. Avidan gibt zahlreiche Beispiele zur Diskriminierung israelischer Araber, erläutert den nachlässigen Umgang der Behörden mit israelischen Neonazis oder den beschämenden mit Holocaustüberlebenden. Er verweist auf das Thema künstliche Befruchtung und deren gesellschaftliche Konsequenzen. Pointiert deutet er die Folgen des Schutzwalls im Westjordanland. Igal Avidan hat einen scharfen Blick und eine klare Sprache. In seinem Buch betrachtet er Israels Wunden - und macht Vorschläge zur Heilung.

Einig sind sich die drei Autoren darin, dass ein Rückzug auf international anerkannte Grenzen Israels Zukunft sichern wird. Dass der jüdische Staat nur als demokratischer Staat eine Zukunft hat und dass israelische Identität mehr denn je den Holocaust reflektiert. Jedes der drei Bücher steht für sich, jedes ist gut zu lesen. Jedes erläutert Zusammenhänge und vermittelt auf frische, unsentimentale Weise einen tiefen Eindruck vom Zustand des 60-jährigen Jubilars. Er ist nun alt genug, sich ungeschminkt im Spiegel anzusehen.

sylke tempel: israel - reise durch ein altes neues land
Rowohlt Berlin, Berlin 2008, 256 S., 19,90 €

michael borgstede: leben in israel - alltag im ausnahmezustand
Herbig, München 2008, 255 S., 19,90 €

igal avidan: israel - ein staat sucht sich selbst
Diederichs, München 2008, 214 S., 19,95 €

Jüdische Allgemeine, Spezial Jüdische Literatur, 13.3.2008

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