Mit besonderer Freude
Der «Zug der Erinnerung» beleuchtet endlich die Rolle der Reichsbahn im Holocaust
von L. Joseph Heid

Am 28. Oktober 1938 führten die Nazis ihre erste Massendeportation von etwa 20.000 so genannten Ostjuden durch, unter ihnen auch Kinder. Ziel damals waren die polnischen Grenzstationen, wo die Juden von SS und Polizei unter schikanösen Bedingungen mit Peitschen und Gewehrkolbenstößen über die Grenze getrieben wurden. Es folgten reichsweit die ersten Judentransporte ab Herbst 1941, die direkt in den Tod führten. Ziel waren zunächst die Ghettos Lodz, das die Nazis in «Litzmann-Stadt» umbenannt hatten und Riga und andere Städte im Osten. Weitere Züge in die Vernichtungslager folgten. Die letzten Deportations-Züge verließen die deutschen Hauptbahnhöfe im Frühjahr 1945.

Seit November 2007 fährt der «Zug der Erinnerung» durch Deutschland, sucht nach Spuren zehntausender von den Nationalsozialisten verschleppter Kinder und ehrt die vergessenen Opfer des NS-Systems: Kinder und Jugendliche, die mit der «Deutschen Reichsbahn» in die Vernichtungslager transportiert wurden. Schätzungen sprechen von über einer Million. Es waren Kinder und Jugendliche aus fast sämtlichen europäischen Staaten. Nur wenige kehrten zurück. Der «Zug der Erinnerung» macht jeweils mehrere Tage Station auf den Hauptbahnhöfen. Zwei Ausstellungswagen informieren über das damalige Geschehen und regen an, sich mit den Hintergründen der deportierten Kinder aus der jeweiligen Region auseinander zu setzen.

An dem monströsen Verbrechen des Holocaust waren viele Tausend beteiligt und es war ein arbeitsteiliges Mordprojekt. An vorderster Front dieses Großverbrechens stand die Deutsche Reichsbahn, und diese hatte einen Namen - Spediteur war Albert Ganzenmüller, Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium von 1942 bis 1945, Technokrat des Todes. In seiner Zeit deportierte das deutsche Eisenbahnsystem rund drei Millionen Juden in die Vernichtungslager.

Dass die Durchführung des Judenmords nicht zuletzt von dem Engagement Ganzenmüllers bei der Bereitstellung von Transportmitteln abhing, verdeutlicht ein Schreiben vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, vom 20. Januar 1943, in dem dieser den «Abtransport der Juden» als vordringliche Aufgabe schildert und Ganzenmüller schließlich - trotz angespannter Transportlage - bat: «Helfen Sie mit und verschaffen Sie mir mehr Züge». Das tat der Angesprochene dann auch: Er ließ Räder rollen für den «Endsieg»; es kam ihm bei den Deportationen auf jeden Wagen an.

Während fast keine internen Dokumente der Reichsbahn aufgefunden worden sind, die ihre Rolle bei den Deportationen von Juden in die Vernichtungslager hinreichend deutlich machen, gibt es doch ein Fragment einer Korrespondenz vom Juli oder August 1942 zwischen Ganzenmüller und Heinrich Himmlers Adjutanten Karl Wolff. Ganzenmüller hatte eine Meldung der Generaldirektion der Ostbahnen an Wolff weitergeleitet, für die dieser sich im Namen Himmlers bedankte. «Mit besonderer Freude», so Wolff in seinem Schreiben, habe er die Bemühungen des Staatssekretärs zur Kenntnis genommen, regelmäßig Züge für die Deportationen des, so wörtlich, «auserwählten Volkes» zur Verfügung zu stellen und zwar je einen Zug täglich für 5.000 Personen. Zielort: Treblinka.

SS-Obergruppenführer Wolff mahnte den Parteigenossen Ganzenmüller, diese «Bevölkerungsbewegung in einem beschleunigten Tempo» durchzuführen. Die Nazis hatten es eilig, ihr Mordprogramm «reibungslos» durchzuführen. Wolff schloss sein Dankesschreiben mit den Worten: «Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Bemühungen in dieser Angelegenheit und darf Sie gleichzeitig bitten, diesen Dingen auch weiterhin Ihre Beachtung zu schenken». Und Ganzenmüller ließ sich nicht lange bitten - er kümmerte sich um die «Dinge», wie die Deportationen in Technokratenkreisen euphemistisch bezeichnet wurden.

Millionen unschuldiger Menschen wurden unabhängig ihres Geschlechts, ihres Alters, ihrer sozialen Herkunft, - Alte, Kranke, Kinder - quer durch Europa aus allen Himmelsrichtungen vom Atlantik, von Norwegen und aus Griechenland in Viehwaggons verfrachtet - und es gab immer nur ein Ziel: die Todeslager des Ostens.

Und mitten im Krieg fuhren die Ganzenmüllerschen Züge leer zurück. Selbst in Zeiten höchster Transportknappheit, etwa im Winter 1942 während die Schlacht bei Stalingrad tobte, standen immer Züge für die Judendeportationen zur Verfügung, von Ganzenmüller freiwillig bereitgestellt. Das sagt viel aus über die tatsächlichen Absichten der Nazis, den der Judenmord wichtiger war als der «Endsieg».

In einem Rundschreiben wandte sich Ganzenmüller an die deutschen Eisenbahner und verpflichtete sie, die geforderten Leistungen in der gleichen Weise zu erfüllen wie die Front und packte sie an ihre Eisenbahnerehre mit den Worten: «Der Führer setzt großes Vertrauen in seine Eisenbahner. An uns liegt es, uns dieses großen Vertrauens würdig zu erweisen».
Irgendwann hat den Träger des goldenen Parteiabzeichens mit der NSDAP-Mitgliedsnummer 483.916 Albert Ganzenmüller doch das Schicksal eingeholt. Doch vor Gericht litt er unter einem phänomenalen Gedächtnisschwund: Der frühere Staatssekretär Ganzenmüller wollte mit einem Mal nichts davon gewusst haben, dass die Menschen in den Viehwaggons - «Nicht selten mit mehr als hundert Menschen beladen», wie es in der Anklageschrift heißt - in den sicheren Tod fuhren.

Was die Zeitgenossen schon 1943 tagtäglich allenthalben hörten und worüber in den Kasernen makabre Witz kursierten, das soll angeblich nie zu ihm, dem Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium gedrungen sein? Millionenfacher Mord der Juden? Nein, so etwas sei ihm gänzlich unmöglich erschienen, behauptete Ganzenmüller vor Gericht.

Ganzenmüllers Werdegang nach Kriegsende unterscheidet sich denn auch in nichts von dem Schicksal anderer NS-Größen, die dank der Ignoranz der Besatzungsmächte zunächst untertauchen und später nach und nach wieder eine bürgerliche Existenz gründen konnten.

Nach dem Krieg entkam Ganzenmüller nach Argentinien, einem unter hohen Nazis bevorzugten Refugium, wo er alsbald wieder in seinem alten Metier tätig war: als beratender Ingenieur bei der argentinischen Staatsbahn. Doch während er es sich unter südamerikanischer Sonne gut gehen ließ, und niemand danach fragte, wie die Millionen Menschen in die Vernichtungslager gekommen waren, drängte es ihn, sich um seine Ruhegelder als gewesener Staatssekretär zu kümmern. Er kehrte er in die Bundesrepublik und setzte seine berufliche Karriere zunächst unbehelligt fort.

Das westdeutsche Klima schien ihm zu gefallen. NS-Prozesse gab es damals so gut wie keine. Der exzellente Transportfachmann bewarb sich bei der Firma Hoesch in Dortmund. Am 1. Juli 1952 trat er in die Dienste der Hoesch AG - wiederum als «Planungsingenieur für Transportfragen» - ein und betrieb alsbald seine Anerkennung als Unbelasteter.

Am 1. April 1968 bei Hoesch pensioniert, zog sich Ganzenmüller dann nach Hindelang im Allgäu zurück, wo ihn allerdings die Staatsanwälte der Zentralstellen für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen nie so recht zur Ruhe kommen ließen, bis sie ihn im Jahre 1970, da war er 65 Jahre alt, zum Prozess nach Düsseldorf zitierten. Und mit ihm stand endlich auch einmal das kalkulierende, planerische Element, der bürokratische Sockel des Juden- und Zigeunermords vor Gericht.

Vermutlich wäre Ganzenmüller davon gekommen, hätten nicht drei Männer mit einem feinen Gespür für Gerechtigkeit und Recht mit allem Nachdruck auf ein Verfahren gedrängt. Es waren dies der Justizminister von Nordrhein-Westfalen, Josef Neuberger, Oberstaatsanwalt Alfred Spieß und Rechtsanwalt Robert Kempner, dem ehemaligen Ankläger in den Nürnberger Prozessen. Sie setzten durch, dass die Hauptverhandlung gegen Ganzenmüller doch noch zugelassen wurde. Am 10. April 1973 wurde der Prozess gegen Ganzenmüller in Düsseldorf eröffnet.

Zwölf Jahre war ermittelt, zweimal ein Verfahren abgewiesen worden, nun waren 119 Zeugen benannt, mit deren Hilfe die Anklage den Beschuldigten überführen wollte. Die Anklage gegen Albert Ganzenmüller des Düsseldorfer Schwurgerichts lautete auf Beihilfe zum Mord an Menschen jüdischen Glaubens in mehr als einer Million Fällen.

In Düsseldorf stand der in der «Wolfsschanze» von Hitler persönlich zum Staatssekretär ernannte blonde, inzwischen ergraute Prototyp der seinerzeit ungemein gefragten nordischen Rasse mit seiner 1,86 Meter Körpergröße mit einem Mal ganz klein vor seinem weltlich Richter.

Während der Staatsanwalt die Anklage erschütternd eindringlich vortrug, herrschte im Düsseldorfer Gerichtssaal eine geradezu gespenstische Stille. Kein Rascheln, Flüstern oder Tuscheln war zu hören. Auch das Gericht folgte den Worten des Anklägers mit gespannter Aufmerksamkeit. Nur der Angeklagte selbst tat so, als ginge ihn das nichts an. Das von Mensurnarben verunzierte Gesicht zeigte keinerlei Bewegung. Der Mann im grauen Anzug machte eher den Eindruck eines gelangweilten Zuhörers.

Der Vorsitzende Richter begann seine Vernehmung mit dem Satz: «Herr Dr. Ganzenmüller, was war Ihnen als Staatssekretär über die Pläne und Absichten der Reichsregierung bekannt, die Angehörigen der jüdischen Rasse(!) in Europa zu vernichten?»

Ganzenmüller darauf: «Ich hatte nie davon gehört, dass man die Juden vernichten will. Erst nach dem Krieg erfuhr ich es».
Im Mittelpunkt der Vernehmung stand Ganzenmüllers Korrespondenz mit Himmler: «5.000 Juden täglich bedeutete 35.000 pro Woche, im Monat rund 150.000 also!», rechnete der Vorsitzende Richter vor. «Machten Sie sich keine Gedanken darüber, was die dort wohl sollten?»

«Ich sagte schon», so Ganzenmüller darauf, «den Inhalt dieses Schreibens hatte ich innerlich und geistig nicht aufgenommen...»

«Sie wollen also behaupten», so der Richter spitz, «dass Sie einen Geheimbrief an den Stab des Reichsführers SS, Himmler, an den zweithöchsten Mann also im Dritten Reich, zwar unterschrieben, aber inhaltlich nicht zur Kenntnis genommen haben?»

«Ja, so ist es. Der Brief ist [...] von mir lediglich [...] routinemäßig unterschrieben worden».

«Es war aber einer Ihrer Privatbogen», stellte der Richter klar. «Wer konnte [...] wohl an Ihr Privatpapier kommen?»

«Sie werden es vielleicht aus meinem Sekretär geholt haben. [...] Also um derartige Kleinigkeiten habe ich mich wirklich nie gekümmert [...] und es war außerdem ja wirklich nicht leicht, all diese Zusammenhänge zu durchschauen [...] ich meine, für mich als einfachen Staatsbürger».

So nahm der Dialog zwischen dem Vorsitzenden Richter und dem geschmeidigen Angeklagten einen beschämenden Verlauf. Für das, was sich im Düsseldorfer Schwurgerichtssaal abspielte, kennt die deutsche Sprache gar keinen adäquaten Ausdruck und behilft sich mit dem Wort «Farce».

Vier Tage nach diesem Verhör hieß es dann: Ganzenmüller hat's am Herzen. Da erlitt der bis dahin kerngesunde Ganzenmüller einen Herzinfarkt. Das Verfahren wurde zunächst vorläufig und im März 1977 wegen «dauernder Verhandlungsunfähigkeit» endgültig eingestellt. Dank der selbstlosen Pflege Vieler konnte der Herzkranke bald die ersten Schritte in die Frühlingsluft des Jahres 1973 wagen. Es folgten kürzere Spaziergänge, schließlich die Heimkehr in die Hauptstadt des Freistaats Bayern, nach München.

Jahrzehntelanges Verschleppen, Verzögern und Verkomplizieren der Strafverfolgung rückten Mordanklagen, als sie nach 1960 zu guter Letzt kamen, an den Rand des Irrealen. Das Verlangen, einen friedfertigen 68-Jährigen sein Wüten als 37-Jährigen sühnen zu lassen, ist nicht sehr intensiv. Der Angeklagte zerfällt in zwei verschiedene Personen, doch nicht nur des Alters wegen. Dauernd konstatierten die Gerichte ein psychologisches Rätsel, dass der gewissenlose Mordgehilfe sich in einen gesetzliebenden, lammfrommen Bürger verwandelt habe.

Mit den Juden-Transporten machte die Reichsbahn gute Geschäfte. In der Regel mussten die Opfer ihren Transport in die Vernichtungslager selbst zahlen. Veranschlagt wurden - entsprechend der dritten Wagenklasse - vier Pfennig pro Schienenkilometer. Kinder unter vier Jahren kosteten die Hälfte.

Über eine Bahnstrecke von über 1.500 Kilometern wurden allein zwischen 1942 und 1944 11 000 Kinder in Viehwagons von Paris nach Auschwitz deportiert. Die rund 52-stündige Reise führte quer durch Deutschland in den Tod. An jedem dieser 11.000 Kinder verdiente die Deutsche Reichsbahn, deren Rechtsnachfolgerin die heutige Deutsche Bahn AG ist.

Die Deutsche Bahn AG verweigerte trotz nationaler und internationaler Proteste lange, allzu lange, das Gedenken an die deportierten Kinder auf deutschen Bahnhöfen. Sie verweigerte eine Ausstellung, die auf Bahnhöfen in ganz Frankreich Tausenden von Reisenden zugänglich gemacht wurde. Die französische Staatsbahn stellte für die von einer französischen Organisation konzipierte Ausstellung in sämtlichen Landesteilen Stelltafeln und Flächen in den Bahnhöfen bereit und im Pariser Nordbahnhof hielt der Vorstandschef der französischen Bahn die Eröffnungsrede.

Ganz anders die Deutsche Bahn AG, die von ihrer Vorgängerin, der «Deutschen Reichsbahn», ein Milliardenvermögen übernommen hat. Das bis heute bestehende Schienennetz wurde über Jahre von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen unterhalten und die Deutsche Bahn AG ist die Erbin dieser unbezahlten Arbeit sowie der Profite, die mit Transporten in die Vernichtungslager erzielt wurden. Die Verstrickung in den millionenfachen Judenmord beschweigt die Deutsche Bundesbahn in ihren Annalen allerdings gern.

Und vor diesem Hintergrund erklärte die Deutsche Bahn AG in einem Schreiben an Beate Klarsfeld, die mit ihrem Mann Serge die Ausstellung angeregt und durchgesetzt hat, der Bahn würden «sowohl die personellen als auch die finanziellen Ressourcen» fehlen, «um eine Ausstellung wie in Frankreich in Bahnhöfen zu realisieren». Ende 2006 lenkte die Bahn ein. Die «Deutsche Bahn AG», historische Erbin der «Reichsbahn», verlangt hohe Summen, damit der «Zug der Erinnerung» das deutsche Schienennetz benutzen darf - das nennt man Trassengebühren.

Für den Zugang zur Ausstellung über die deportierten Kinder auf den deutschen Bahnhöfen sollen weitere Gelder an die Bahn AG gezahlt werden - das nennt man Stationsgebühren. Schließlich stellt die Deutsche Bahn AG Tausende Euro für die Beleuchtung der letzten Fotos und Briefe der Kinder in Rechnung, die im «Zug der Erinnerung» zu sehen sind - das nennt man Anschlussgebühren.

Die Bahn-Rechnungen sollen aus den Spenden der Besucher finanziert werden. Die historischen Erben der staatlichen Täter lehnen jede finanzielle Unterstützung kategorisch ab.Und mit diesen maßlosen Finanzforderungen und die Verweigerung materieller Hilfe behindert die Deutsche Bahn AG das öffentliche Gedenken an die jugendlichen Opfer der «Reichsbahn» - Deportationen.

Albert Ganzenmüller, spendabel und trinkfest bis zuletzt, starb im März 1996 friedlich in seinem Bett in seiner Münchener Wahlheimat, hochbetagt, 91-jährig. 23 Jahre hatte er nach dem eingestellten Düsseldorfer Prozess noch in Freiheit gelebt - 23 Jahre, die er als der Hauptorganisator der Sonderzüge in den Tod eigentlich hinter Gittern hätte verbringen sollen. Sein Herz, das ihm noch während des Düsseldorfer Verfahrens so schwer zu schaffen gemacht hatte, hatte sich nach dem Prozess rasch erholt. Die mehr als eine Millionen Menschen, die er durch seine Fahrpläne dem Tod überantwortete, hatten nicht die Möglichkeit, alt zu werden. Die Kinder unter diesen Opfern wurden unmittelbar nach der Ankunft in den Todeslagern ins Gas gestoßen.

«Jüdische Zeitung», April 2008

www.j-zeit.de

zur Titelseite

zum Seitenanfang

Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email