Hostienfrevel
von Klaus-Peter Lehmann

Legenden über sogen. Hostienfrevel waren im Hochmittelalter weit verbreitet. Sie unterstellten jüdischen Gemeinden, sich geweihte Hostien anzueignen. Sie würden diese in einer Art teuflischem zeremoniellem Akt verhöhnen und entehren, mit Messern martern und durchbohren. Aus der Sicht des Transsubstantiationsglaubens,  (1)  der sich im 13. Jahrhundert durchsetzte, mordeten sie Christus neuerlich. Hetzerische Berichte über angebliche jüdische Hostienschändungen wurden damals zu „Predigtschlagern“, besonders durch franziskanische Bettelmönche. Bildliche Darstellungen von Rabbinern, die eine Blut spritzende Hostie mit infernalischem Hass schänden, fanden große Verbreitung. Infame Hostienlegenden wurden in die Welt gesetzt, um Pogrome gegen jüdische Gemeinden zu inszenieren oder nachträglich zu rechtfertigen. Die böse Absicht hinter den Legenden und ihre Widersprüchlichkeit war schon für viele Zeitgenossen offensichtlich. Trotzdem hielt sich diese christliche Lügenpropaganda bis ins 19. Jahrhundert.  (2)

Die hoch- und spätmittelalterliche Eucharistiefrömmigkeit ist reich an drastischen Wundergeschichten. Sie erzählen von blutenden, sich in Fleisch oder sogar ins Christuskind verwandelnden Hostien. Hildegard von Bingen (1098-1179) schrieb, dass Christus sein im Brot unsichtbar verborgenes Fleisch „seinen Erwählten als blutiges Fleisch erscheinen lasse in Zeiten großer Bedrängnis.“  (3)  Dieser Wunderglaube entfaltete sich in Wallfahrten, besonderen Festtagen, Sakramentsprozessionen und Kirchbauten.

So geht der Bau des Domes zu Orvieto (Umbrien) auf ein aus dem nahe gelegenen Dorf Bolsena gemeldetes Wunder zurück. Ein Priester, der an der Transsubstantiation zweifelte, sei von ihr überzeugt worden, als er während der Messe aus der geweihten Hostie in seinen Händen Blut tropfen sah. Zum Gedenken daran führte Papst Urban IV. das Fronleichnamsfest  (4)  ein (1264) und befahl den Bau des Domes (1290-1330). Das Dogma von der Transsubstantiation erscheint in diesem Zusammenhang als die lehrhafte Formulierung eines zweifelhaften Wunderglaubens bzw. dieser als die volkstümliche Illustration dessen, was das Dogma eigentlich meint.

Legenden über jüdischen Hostienfrevel tauchten um die Zeit des 4. Laterankonzil (1215) auf, das die verbreitete Anschauung von der Transsubstantiation dogmatisierte. Vor dem Hintergrund, dass die Juden seit dem frühen Christentum immer mehr mit dem Vorwurf des Christus- bzw. Gottesmordes  (5)  konfrontiert wurden,  und der judenfeindlichen Beschlüsse des Konzils war es nur eine Frage der Zeit, bis die Hostienlegenden ins Antijüdische mutierten. Die erste ihrer Art, die Pariser Hostienfrevellegende von 1290, verbindet das Motiv der Schändung mit dem der Wundertätigkeit der Hostie, die zur Bekehrung einiger Juden führt:

„Wir wollen euch berichten, dass ein Pariser Jude von seiner christlichen Magd um 10 libras eine konsekrierte Hostie kaufte. Er legte sie auf einen Tisch, rief andere Glaubensgenossen herbei und sagte: ‘Sind die Christen nicht dumm, die an diese Hostien glauben?’ Darauf nahmen sie Messer, Stilets und andere Instrumente, um die Hostie zu zerstören, aber sie konnten diesen Zweck nicht erreichen. Endlich nahm einer von ihnen ein ganz großes Messer und durchstach die Hostie, worauf sie sich in drei Stücke teilte und sofort Blut herausfloß. Darauf bekehrten sich viele. Außerdem legten sie die Hostie noch in ein Gefäß siedenden Wassers, um sie auf diese Weise zu zerstören. Die Hostie aber verwandelte sich durch Gottes Kraft in Fleisch und Blut. Auf dieses Wunder hin hat sich Johannes, exhibitor praesentium, mit seiner ganzen Familie zum katholischen Glauben bekehrt. Geschehen ist das im Jahre des Herrn 1290, am Auferstehungstage des Herrn.“  (6)

Mit den dogmatisch unterfütterten Legenden vom jüdischen Hostienfrevel wurde der mittelalterliche Antijudaismus spürbar verschärft. Der Vorwurf des Christusmordes schien nun objektiv feststellbar und war damit quasi justiziabel. Auf jede infame Unterstellung hin drohten Scheiterhaufen und Pogrome. Es war Papst Innozenz III., der mit dem 4. Laterankonzil eine schlimme Leidenszeit für die Juden in Europa einleitete. Denn zu der zweifelhaften Transsubstantiationslehre, die einen wundergläubigen und lügenhaften Antijudaismus rechtfertigte, kam eine umfangreiche antijüdische Gesetzgebung. Juden wurden verpflichtet, den Zehnten zu zahlen. Alle wichtigen Ämter wurden ihnen verboten. Sie hatten in der Öffentlichkeit eine sichtbare Kennzeichnung zu tragen, in Italien z.B. ein gelbes Stück Tuch und einen farbigen Hut. So wurde eine Art Apartheid geschaffen, die die vom Klerus angestrebte Ghettoisierung der Juden förderte und Pogromstimmungen Vorschub leistete.

Im Jahr 1298 kolportierte ein verarmter fränkischer Ritter namens Rindfleisch, er habe eine himmlische Botschaft erhalten, er sei zum Vernichter der Juden ernannt worden, weil diese in Röttingen eine Hostie geschändet hätten. Ein halbes Jahr lang zog er mit einer Rotte von Totschlägern durch ca. 140 schwäbische und fränkische Ortschaften. Sie folterten, schändeten und verbrannten Tausende von Juden. Die Lüge vom Hostienfrevel entfachte auch die Pogrome, die 1337 vom bayrischen Deggendorf und 1336/38 vom österreichischen Pulkau ausgingen und mehrere Judenmassaker zur Folge hatten. Wirtschaftliche Motive werden diese Pogrome mitverursacht haben, weil viele Bürger Deggendorfs bei Juden verschuldet waren.

Die Verschärfung des Antijudaismus durch das 4. Laterankonzil hat einen besonderen Aspekt. L. Poliakov hat darauf hingewiesen, dass die Judenfeindschaft tiefer zielt als die Fremdenfeindlichkeit: „Darin liegt einer der Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus: Der Schwarze wurde bestialisiert, während der Jude eher diabolisiert wurde - ein erheblicher Unterschied.“  (7)  Der Grund hierfür liegt im traditionellen Vorwurf des Christusmordes gegen die Juden, der in den Legenden vom jüdischen Hostienfrevel verdinglicht und mit der Lehre von der Transsubstantiation gerechtfertigt wurde. Weil das von den Juden geschändete Heil in Christus sich auf den Bestand der gesamten katholischen Christenheit bezieht, konnte der Judenhass sich nun zur kollektiven Wahnidee einer dämonischen Bedrohung der christlichen Kultur durch die als Teufel wirkenden Juden ausweiten. Die säkulare Wahnidee von der jüdischen Weltverschwörung, die im 19. Jahrhundert entstand, zeichnet sich hier schon ab.

Rationale Einwände vermochten solchen Wahn nicht zu erschüttern, nicht der Hinweis auf seine innere Widersprüchlichkeit - die Juden hätten selber an die Transsubstantiation glauben müssen, um das ihnen Unterstellte zu tun, - noch der auf seine offensichtliche Bösartigkeit - in vielen Fällen lagen Gewinnsucht und Bereicherungsabsichten hinter den Pogromen offen zutage. Verbohrte Irrationalität behielt in allen Jahrhunderten die Oberhand und zeichnete den Juden das Profil des Teufels ein, der seiner Ohnmacht im Grunde bewusst in tückischer Hinterhältigkeit, verbohrter Raffinesse und wider besseres Wissen die Sabotage des Heils betreibe. Mit teuflischer Immoralität stigmatisiert waren die Juden für vogelfrei erklärt und der Weg frei, sie als die ewigen Urheber allen Übels anzugreifen. Die mörderische Schärfe des Antisemitismus, die im Nationalsozialismus zum Durchbruch kam, wurde schon damals geschmiedet.

Die offizielle kirchliche Lehre zielte nicht auf die Vernichtung der Juden, sondern auf ihre Demütigung als sichtbares Strafgericht für den angeblichen Christus-Mord und auf ihren Erhalt für eine schließliche Bekehrung zum Christentum. Die Kirche konnte sich der Notwendigkeit einer Bestätigung ihrer behaupteten Rolle als neues Israel durch das angeblich alte Israel, das unleugbare Volk der Schrift, nicht entwinden. Die verzweifelte Lage der mittelalterlichen Juden zwischen dem zu Pogromen neigenden Hass eines aufgestachelten Christenpöbels und den brüchigen Schutzversprechen politischer und kirchlicher Machthaber hängt damit unmittelbar zusammen.

  1. Als Transsubstantiation bezeichnet die katholische Lehre die Wandlung der geweihten Hostie in den Leib Christi. Sie sei trotz Beibehaltung ihrer inadäquaten Gestalt als Brot seins- und wesensmäßig Christi Leib. Dank der Allmacht Gottes könne sie nicht nur eine ihrem Wesen fremde Form annehmen und beibehalten, sondern sich auch in die adäquate Gestalt zurückverwandeln, indem sie blute oder ihr Fleisch zeige.
  2. In „Des Knaben Wunderhorn“ findet sich das Gedicht „Die Juden in Passau“, das den angeblichen Hostienfrevel von 1477/78 in Reime fasst (vgl. Anm. 6). Goethe kommentierte, die Ballade sei „bänkelsängerisch, aber lobenswerth“ (Des Knaben Wunderhorn, Kommentierte Gesamtausgabe, 1987, Bd. 1, S. 86, 447; Lied I 93b).
  3. Hildegard von Bingen, Scivias - Wisse die Wege, Freiburg 1991, S. 232.
  4. Beim Fronleichnamsfest (fron = Herr; leichnam = Leib) wird nach der Messe die geweihte Hostie in einem kostbaren Schaugefäß (Monstranz) auf einer Prozession durch die Straßen getragen.
  5. Auf dem Untergrund der Lehre von der Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater ist der Christusmord theo-logisch ein Mord an Gott.
  6. Freiburger Rundbrief, Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung, 4/2007, S. 255. Ein anderes Beispiel einer Hostienfrevellegende sei angefügt. Ein Holzschnitt aus dem Jahr 1480 schildert in einer 12teiligen Bilderfolge einen Hostienfrevel der sich zwei Jahre zuvor in Passau ereignet haben soll (vgl. Anm. 2): Ein Christ stiehlt geweihte Hostien aus einer Kirche und verkauft sie an Juden. In der Synagoge durchstechen sie die Hostien, sie „bluten“. Auf einigen Hostien erscheint das Gesicht eines Kindes. Die Juden werden gefangengenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt. Zwei werden enthauptet, die anderen mit glühenden Zangen gefoltert und verbrannt. Alle Juden, die von dem Hostienfrevel wussten, kommen auf den Scheiterhaufen. Der Christ wird mit glühenden Zangen in Stücke gerissen. Die Synagoge wird in eine Kirche verwandelt (H. Jochum, Material für den RU. Stationen 4, Queißer Verlag 1981).
  7. L. Poliakov, Humanität, Nationalität, Bestialität, in: Hrg. E. Weber, Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt a. M. 1994, S. 141.

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