Wie aus einer innerjüdischen Bewegung eine Religion namens Christentum entstand
Einladung zu einer virtuellen Zeitreise ins 1. Jahrhundert
von Peter Hirschberg

Der christlich-jüdische Trennungsprozess, der am Ende des 1. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen war, ist vielschichtig und kompliziert. Deshalb wähle ich einen vielleicht ungewöhnlichen Weg der Darstellung. Um größere Anschaulichkeit zu erreichen, werde ich das Auseinandergehen der Wege in dialogischer Form nacherzählen. An verschiedenen geschichtlichen Knotenpunkten des 1. Jahrhunderts sollen fiktive Gespräche mit Juden zu stehen kommen, wie sie aufgrund der Quellen stattgefunden haben könnten. Auch wenn manche Details der hinter diesen Dialogen steckenden historischen Rekonstruktionen kritisch diskutiert werden können, meine ich doch, dass die Grundtendenz der Darstellung den historischen Fakten nahekommt. Ich habe mich dabei dafür entschieden, den Trennungsprozess zuerst aus einer rein jüdischen Perspektive zu betrachten. Das ist für mich vor allem eine Sache der Fairness. Bevor wir uns mit der neutestamentlichen Sicht der Ereignisse vertraut machen, sollten wir uns als Christen bemühen, die jüdische Perspektive möglichst vorurteilsfrei wahrzunehmen. Dass dies immer nur ein Versuch sein kann – auch wenn hinter diesem Versuch ein intensiver Diskurs mit jüdischen Wissenschaftlern steht –, muss ich nicht eigens betonen. Wer sich gründlicher in die Materie einarbeiten will, der sei auf die Literatur verwiesen, die in den Fußnoten der kurzen Einleitungstexte und der Dialoge zu finden ist.

Erste Station: Jesus von Nazareth, umstritten, aber nicht unjüdisch (30 n. Chr. in Jerusalem – Gespräch mit einem pharisäischen Gelehrten)

Der erste Dialog, kurze Zeit nach Jesu Kreuzigung platziert, beschäftigt sich mit der Frage, ob Verkündigung und Selbstverständnis Jesu in irgendeiner Weise unjüdisch waren und dies eventuell der Grund für seine Hinrichtung war. Das ist natürlich eine eigenartige Frage, wenn man bedenkt, wie klar das Judesein Jesu im Neuen Testament bezeugt wird, und doch hat man in der Theologiegeschichte Jesus sehr häufig in einer plakativen Schwarz-Weiß-Malerei gegen sein Judesein ausgespielt. Man brauchte eine dunkle Folie, damit das Neue des „Christentums“ umso klarer hervorstrahlen kann. Doch Jesus hat keine neue Religion namens „Christentum“ gegründet, Jesus war und blieb sein ganzes Leben lang Jude, wenn auch sein Judesein einen durchaus einzigartigen Charakter hatte.12

Lieber Rabbi Jonathan, ich bin Grieche, stamme aus dem hellenistischen Städtebund, der Dekapolis, und interessiere mich sehr für die jüdische Religion. Nun habe ich hier in Jerusalem immer wieder gehört, dass vor zwei Tagen Jesus von Nazareth, der Anführer einer messianischen Gruppe, von der römischen Besatzungsbehörde hingerichtet wurde. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie diese Hinrichtung für gut hießen? Es scheint sich bei dem Nazarener ja um einen Feind des jüdischen Volkes gehandelt zu haben.

Einen Moment, Feind des jüdischen Volkes? Das ist doch absoluter Unsinn! Da müssen Sie schon ein wenig genauer hinsehen. Es stimmt, dass einige unserer religiösen Führer seine Hinrichtung befürwortet haben, vor allem solche, die zur priesterlich-sadduzäischen Aristokratie gehören. Aber doch nicht deshalb, weil Jesus ein Feind des jüdischen Volkes oder der jüdischen Religion gewesen wäre. Normalerweise schreiben die Römer den Grund für die Anklage auf ein Holzbrett und nageln es dann über das Kreuz. Das ist der so genannte Titulus. Und was stand bei Jesus auf diesem Titulus geschrieben? König der Juden! Genau das hat man ihm vorgeworfen, dass er beanspruche „König der Juden“ zu sein, und zwar nicht nur in einem geistlichen Sinn, sondern in seinem sehr real-politischen, in einem messianischen Sinn. Sie müssen wissen, dass es bei uns viele religiöse Fanatiker gibt, die den Anspruch erheben, dass Gott sie dazu berufen habe, unser Volk in die Freiheit zu führen. Im Klartext: es von der römischen Okkupation zu befreien. Vor allem die Zeloten13 haben sich diesen religiös legitimierten Befreiungskampf auf ihre Fahne geschrieben. Es versteht sich von selbst, dass die Römer in diesem Bereich äußerst hellhörig sind, weil sie jeden Funken antirömischen Widerstandes im Keim ersticken wollen. Ich persönlich glaube zwar nicht, dass Jesus ein Zelot war, seine Worte von der Feindesliebe sprechen deutlich eine andere Sprache, aber er tat eben doch Dinge, die er lieber nicht hätte tun sollen, die ihn zumindest in den Augen mancher in eine gefährliche Nähe zu diesen religiös-politischen Agitatoren brachten. Vor allem diese Aktion im Tempel (Mk 11,15–19), wo er wie ein Irrer gewütet hat. Mag sein, dass er durch diese „Reinigungsaktion“, wo er Händler und Verkäufer vertrieben hat, nur für einen erneuerten Kult demonstrieren wollte, aber man konnte das eben auch als Zeichenhandlung dafür interpretieren, dass das bald hereinbrechende Reich Gottes zu einem gewaltsamen Umsturz führen wird.14 Allein der Gedanke an einen solchen Umsturz ist für die Römer unerträglich, und so hat dieser Zwischenfall das Fass zum Überlaufen gebracht.
Auch unsere religiösen Führer waren, um es gelinde auszudrücken, irritiert. Sie haben schließlich eine Verantwortung für unser Volk. Sie müssen sich um ein zumindest halbwegs gutes Verhältnis zu den Römern bemühen. Wenn die Römer nur den leisesten Verdacht hegen, dass sie solche umstürzlerische Tendenzen unterstützen, dann gnade uns Gott! Deshalb: Wer für die Römer gefährlich ist, der ist auch für die unter uns gefährlich, die eine öffentliche Verantwortung tragen. Deshalb beschloss man, den Funken im Keim zu ersticken. Bei Pontius Pilatus war da auch keine lange Überzeugungsarbeit nötig, er ist ja als Mann der kurzen Prozesse bekannt.

Bedeutet dies, dass religiöse Motive in einem engeren Sinn bei dieser ganzen Geschichte keine Rolle spielten?

Natürlich gab es genug Leute, denen der Nazarener ein Dorn im Auge war. Manche seiner Aussagen waren auch höchst anstößig. All das hat sicher mit hineingespielt, für die einen mehr, für die anderen weniger, aber deshalb wurde er nicht den Römern übergeben.

Das überrascht mich! Aber was meinen Sie, wenn sie von anstößigen Aussagen reden?

Mich persönlich hat es vor allem auf die Palme gebracht, mit welcher Anmaßung und Arroganz Jesus aufgetreten ist. Es gibt Sätze von ihm – wenn er sie nun wirklich so gesagt haben sollte –, bei denen man das Gefühl hat, dass er so redet, als wenn Gott bedingungslos auf seiner Seite stehen würde, und er natürlich auf Gottes Seite. So wie bei unseren Propheten, aber eben noch einmal gesteigert. Ein Mensch sozusagen, der nicht nur durch Worte, sondern durch sein ganzes Wesen Gott in der Welt vertritt. Oder wie soll ich es denn deuten, wenn er im Namen Gottes Sünden vergibt (Mk 2,5f) und behauptet zu wissen, was der wahre Sinn der Tora ist (Mt 5,17–48)? Diese Besserwisserei, diese Hybris, mit der er sich über alle anderen erhoben hat, das konnte ich nur schwer ertragen.

Anstößig war bestimmt auch, dass Jesus die Vorschriften Ihres religiösen Gesetzes gering geachtet hat

Das nun wiederum wäre mir völlig neu. Das hört sich fast so an, als wenn Jesus kein frommer Jude gewesen wäre. Aber das war er. Natürlich! Es gab kaum keinen Sabbat, wo man ihn nicht in der Synagoge gesehen hat. Wie die anderen Galiläer ist er zu den großen Festen nach Jerusalem gekommen, überhaupt hat er die Tora, also unser religiöses Gesetz, in Ehren gehalten. Ich weiß natürlich, dass es immer wieder Meinungsunterschiede gab in Bezug auf die konkrete Auslegung der Tora, gerade auch mit meinen pharisäischen Kollegen, aber das ist völlig normal. Was allerdings nicht normal war, ist die Art und Weise, wie er seine Auslegung vertreten hat. Er hat sich mit seinem „ich aber sage euch“ eben nicht unter die anderen Ausleger als einer unter vielen Schriftgelehrten eingereiht, sondern seine Auslegung von vornherein als die wahre, mit Gottes Willen konform gehende vertreten – und dabei hatte er nicht einmal eine schriftgelehrte Ausbildung. Da ist sie wieder, diese Hybris. Aber ich bleibe dabei: Inhaltlich waren die Differenzen nicht riesig. Sicher war er manchen in bestimmten Bereichen zu liberal. Aber im Großen und Ganzen hat er die Bedeutung der Tora eher radikalisiert. Wie hätte er sonst behaupten können, dass das Töten bereits in dem Augenblick beginnt, wo man jemand im Herzen verflucht (Mt 5,21f)?

Nun haben Sie mein Weltbild gehörig durcheinander gebracht. Aber ich muss Sie jetzt doch noch einmal bitten, in für mich verständlichen Sätzen zusammenzufassen, worin nun der Unterschied zwischen Jesus und dem normalen Judentum lag.

Ich will es versuchen, muss aber gleich eines vorausschicken: Das normale Judentum gibt es nicht. Es gibt unter uns die unterschiedlichsten Richtungen: Sadduzäer, Pharisäer, Zeloten, Essener, weisheitlich geprägte Gruppen, Apokalyptiker, um nur einige zu nennen. Das, was an Jesus anstößig war, ich habe es bereits ausgeführt, war weniger seine Lehre oder Ethik, sondern sein Selbstverständnis. Er behauptete, dass das Reich Gottes hereinbrechen wird und es sich durch ihn, durch seine Worte und Taten schon jetzt Bahn bricht, er also der ist, durch den Gott sein Reich realisieren wird. Das ist unerhört! Das ist ein gewaltiger Anspruch! Ein Anspruch, der einen schon fragen lässt, ob er nicht größenwahnsinnig war. Jedenfalls hätte er den Vorwurf der Arroganz, den Vorwurf fälschlich angemaßter Autorität nur dann entkräften können, wenn er den Worten auch Taten hätte folgen lassen. Genau das ist bis jetzt aber nicht passiert. Das macht ihn und seine Anhänger nicht zu Apostaten. Es sind keine Leugner des Judentums, schon gar nicht Feinde des Judentums. Es sind – in meinen Augen – verführte Idealisten, die hoffentlich bald merken, dass Jesus sich getäuscht hat, und dann endlich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Das Judentum steht mit beiden Füßen auf der Erde.

Rabbi Jonathan, ich danke Ihnen für dieses aufschlussreiche Gespräch!

Zweite Station: Die Jesusbewegung als innerjüdische Erneuerungsbewegung (40 n. Chr. in Jerusalem: Gespräch mit einem Fleischverkäufer)

Die Jesusbewegung im Land Israel war in den ersten Jahren nach Tod und Auferstehung Jesu eine innerjüdische Gruppe, die, auch wenn sie einen sehr exklusiven religiösen Anspruch erhob, soziologisch klar innerhalb der Grenzen des Judentums blieb.15 Davon zu unterscheiden sind allerdings die christusgläubigen Juden, die aus der hellenistischen Welt stammen und teilweise auch in Israel präsent waren. Auch sie sind zwar in den ersten Jahren noch relativ klar als innerjüdische Gruppe zu beurteilen, und dennoch fand, vor allem durch die beschneidungsfreie Heidenmission und die zunehmende Integration der Heidenchristen, eine schleichende Veränderung ihres religiösen Identitätsgefühls statt. Natürlich verstanden sie sich immer noch als solche, die in verheißungsgeschichtlicher Kontinuität zu Israel stehen, als Teil des eschatologischen (= endzeitlichen) Israel, das sich aufgrund der durch Jesus heraufgeführten Situation für die Nichtjuden geöffnet hat.16 Aber aufgrund der abnehmenden Toraobservanz konnte ihre jüdische Identität von außen nun leicht infrage gestellt werden, was wiederum dazu geführt haben mag, dass sie ihre Identität immer stärker in Opposition zu dem nicht an Christus gläubigen Judentum bestimmten.

Ich darf mich vorstellen: Mein Name ist David. Ich stamme aus Alexandrien und verfasse für unsere dortige Synagoge eine Studie über die unterschiedlichen Strömungen religiösen Lebens in Jerusalem. Manches war mir schon bekannt. Aber nun habe ich gehört, dass in den letzten Jahren eine neue Bewegung entstanden ist, manche nennen sie die Nazarener.17 Können Sie mir als bodenständiger Bürger Jerusalems ein wenig über diese neue Gruppe erzählen?

Gerne! Zuerst einmal: Größtenteils sind diese Nazarener gottesfürchtige Juden, die die Tora halten. Da könnte sich manch anderer eine Scheibe abschneiden. Und ich weiß, wovon ich rede, einige wohnen nämlich gleich direkt in meiner Nachbarschaft. Sie können sich nicht vorstellen, wie genau diese Leute, wenn sie bei mir einkaufen, darauf achten, dass alles schön koscher ist. Sie wissen ja, dass in unserer Religion die Speisegesetze eine große Rolle spielen. Darüber hinaus haben viele eine freundliche Ausstrahlung und eine Lebendigkeit, die schon beeindrucken kann. Andererseits wirkt die Gewissheit, mit der sie auftreten, oft auch ein wenig arrogant. Sie geben einem schon das Gefühl: „Du bist halt einfach noch nicht so weit, hast noch nicht ganz verstanden, worum es eigentlich geht.“

Worum geht es den Nazarenern denn? Und wie beurteilen Sie diese neuen Lehren?

Ich bin kein Fachmann in diesen Fragen. Aber ich habe den Eindruck, dass es für sie ganz zentral ist, dass ihr Jesus von Gott – so sagen sie es jedenfalls – auferweckt wurde. Und das halte ich nun wirklich für Aberglauben. Das ist mir zu phantastisch! Ich glaube zwar auch, dass Gott uns alle am Ende der Tage auferwecken wird, so wie es die Pharisäer lehren, aber dass nur einer auferstanden ist und die anderen noch nicht, das scheint mir allzu abstrus. Außerdem: Diese ekstatischen Phänomene, die ihre Gottesdienste prägen – sie behaupten, diese wären durch den über sie ausgegossenen Gottesgeist verursacht –, auch das ist mir zu überzogen. Aber wie gesagt: Das ändert nichts daran, dass die meisten fromme Juden sind, und das ist doch schließlich die Hauptsache. Wenn sie ihr Jesus zu einer solchen Gottesfurcht motiviert, warum nicht. Meine Sache ist es nicht. Meine Sache ist aber auch vieles andere nicht. Wenn ich nur an die Essener denke! Die sind in vielem noch radikaler als die Nazarener, betrachten sich selbst als die Söhne des Lichts und Leute wie mich, na ja, Sie können es sich schon denken. Andererseits: Auch sie gehören zu uns, ob es mir passt oder nicht.

Eine interessante Einschätzung. Aber eines muss ich nun doch erwähnen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass manche, die ebenfalls an Jesus von Nazareth glauben, aber aus dem eher griechisch sprechenden Judentum kommen, nicht ganz so gesetzesobservant sind, wie Sie es hier darstellen. Da ist es angeblich sogar zu Konflikten mit den religiösen Autoritäten gekommen, woraufhin viele aus Jerusalem vertrieben wurden.

Das ist richtig. Mit denen gab es gewaltig Ärger, und zwar vor allem deshalb, weil sie den Tempelkult so strikt ablehnten (Apg 6,8–15; 7,48– 50).18 Anscheinend waren sie der Überzeugung, dass nicht der Tempel, sondern Jesus der Ort ist, an dem Gott endgültig Wohnung genommen hat, und deshalb auch allein durch den Tod Jesu endgültig Sühne gestiftet wurde: für Israel und die Völker dieser Welt. Ich habe mich dabei immer gefragt, ob diese Ansichten auch mit deren Herkunft zusammenhängen. Sie kommen ja selbst aus der Diaspora. Als Diasporajude wissen Sie, dass man außerhalb Israels manches anders sieht. Vielen z.B. ist wichtig zu betonen, dass der Gott Israels der Gott aller Menschen ist und deshalb eine gewisse Öffnung für die Völkerwelt nicht nur legitim, sondern geradezu gefordert ist.19 Könnte es nicht sein, dass vielleicht auch deshalb diesen hellenistisch geprägten Juden der Tempelkult mit seinen starken Abgrenzungen von allem Heidnischen nicht so sehr ins Konzept passte? Dass sie also froh waren, durch ihren Jesusglauben die Barrieren nun endgültig einreißen zu können? Insgesamt kommen mir viele bei uns lebende Diasporajuden doch sehr liberal vor. Ich weiß zwar nicht, ob man ihnen eine geringere Toraobservanz zum Vorwurf machen darf, und dennoch habe ich das Gefühl, dass sie manchmal zu stark nach dem spirituellen Hintersinn der Tora fragen.20 Ist solche Spekulation gut? Führt sie nicht vielleicht doch dahin, dass man sich nur noch in höheren geistigen Sphären bewegt und es mit dem konkreten Halten der Gebote nicht mehr ganz so genau nimmt? Wenn dem so wäre, dann muss man bei den an Jesus gläubigen Diasporajuden nur noch hinzunehmen, dass sie die Aussagen ihres Meisters, der zumindest im kultischen Bereich auch eher dem liberalen Flügel zuzurechnen war, in ihrem spirituellen Sinn deuteten und zuspitzen, dann kann man sich vorstellen, dass da eine explosive Mischung herauskommt.21 Wie dem auch sei, ein Schuss Liberalität, meinetwegen, aber den Tempel, das religiöse Zentrum unserer Religion infrage zu stellen, das geht dann doch zu weit. Andererseits: Lebt nicht auch in Alexandrien ein jüdischer Gelehrter mit ähnlichen Auffassungen?

Sie meinen Philo!

Ja genau, so heißt er. Dieser Philo sieht doch manches ähnlich, oder?

Zumindest vertritt er eine allegorische, also eine sinnbildliche Auslegung der Tora. Aber auch er würde deshalb nie den wörtlichen Sinn bestreiten und die Leute dazu verführen, manche Gebote nicht mehr ganz so genau zu nehmen.22 Schon gleich gar nicht würde er die Bedeutung des Tempelkultus infrage stellen.

Mag sein, ich bin kein Gelehrter, sondern ein einfacher Mann. Aber wie gesagt, von unseren Nazarenern kann ich dergleichen nicht behaupten. Und die anderen, die sind größtenteils geflohen, weil man von unserer Seite hart gegen sie vorgegangen ist (Apg 8,1–3). Die haben schnell gemerkt, dass Jerusalem nicht der richtige Ort für sie ist.

Ich danke Ihnen herzlich für die Einblicke, die Sie mir gewährt haben. Diese haben dem Mosaik der jüdischen Strömungen und Gruppen in Jerusalem doch noch einen entscheidenden Aspekt hinzugefügt.

Dritte Station: Warum es schließlich doch zum Bruch kam (90 n. Chr. in Javne an der palästinischen Mittelmeerküste: Gespräch mit einem Überlebenden aus dem jüdisch-römischen Krieg)

Die zunehmende Heidenmission23, das gemeinsame Leben von Juden und Heiden in den christlichen Gemeinden und die damit verbundene Relativierung der Tora in ihren spezifisch jüdischen Aspekten hat kräftig dazu beigetragen, dass in den Augen der Diasporajuden und natürlich erst recht in den Augen der im Land Israel lebenden Juden, die Jesusbewegung immer stärker als heidnische und unjüdische Bewegung wahrgenommen wurde. Die jüdisch lebenden Christusgläubigen, die auch zahlenmäßig immer unbedeutender wurden, konnten diesen Eindruck kaum relativieren. Zum Bruch kam es dann, als sich infolge des jüdisch-römischen Krieges das Judentum neu definieren musste und gezwungen war, alle auszuscheiden, die nicht bereit waren, sich dem neuen Konsens anzuschließen.

Jehuda ben David, ist das richtig?

Ja, das ist richtig.

Ich will nur sicher gehen, dass ich den Namen auch richtig aufschreibe. Also, wie ich es Ihnen vorab bereits mitgeteilt habe: Ich führe im Namen der römischen Autoritäten eine Untersuchung durch um herauszufinden, welche religiösen Gruppen dem Römischen Reich gefährlich werden könnten. Nun begegnet mir immer wieder eine Bewegung, deren Angehörige sich Christen nennen. Dieser Name wurde mir jedenfalls von Informanten aus Antiochia zugetragen (Apg 11,26). Da es sich hier um eine jüdische Bewegung handelt, würde ich gerne etwas Genaueres von Ihnen erfahren.

Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen gleich widersprechen muss. Aber von einer jüdischen Bewegung zu sprechen, halte ich doch für gewagt!

Ach?!

Die Christen, das ist schon richtig, sind aus dem Judentum hervorgegangen. Am Anfang handelte es sich tatsächlich um eine rein innerjüdische Bewegung, eine Gruppe, die der Überzeugung war, dass ein galiläischer Jude aus Nazareth der verheißene Messias ist. Wir haben sie anfangs gewähren lassen, weil sie trotz manch merkwürdiger Vorstellungen an der Tora festhielten und sich während der ersten Zeit als zuverlässige Volksgenossen erwiesen. Aber da hat sich inzwischen einiges geändert. Plötzlich begannen Nichtjuden sich ihnen anzuschließen, und sie selbst fingen an, unter den Völkern dieser Welt Mission zu treiben, um möglichst viele für ihren Glauben zu gewinnen. Diese heidnischen Jesusanhänger hielten nun aber immer weniger das jüdische Gesetz. Einer der „christlichen“ Hauptagitatoren, ein gewisser Paulus aus Tarsus, also ein Diasporajude, hat sogar steif und fest behauptet, dass Nichtjuden auch ohne das Gesetz halten zu müssen, zum Gottesvolk gehören können, allein durch den Glauben an diesen Jesus (Röm 3,21–31; Gal 3; etc). Eine völlig inakzeptable Haltung! Eine rigorose Infragestellung jüdischer Identität! Diese Entwicklung ging übrigens auch innerhalb der Jesusbewegung nicht ohne Spannungen und Konflikte ab. Manche jüdische Jesusanhänger betrachten diese Paganisierung noch heute kritisch oder lehnen sie ganz ab.24 Aber leider haben diese keine so große Bedeutung mehr, obwohl es vor allem in Galiläa und den angrenzenden Gebieten noch einige von ihnen gibt. Über kurz oder lang werden aber auch diese entscheiden müssen, ob ihnen Christus oder ihre jüdische Identität wichtiger ist.25

Wie haben Sie auf diese Entwicklung reagiert?

Wir haben die nötigen Konsequenzen gezogen. Meine verehrten rabbinischen Kollegen, mit denen ich mich aufgrund der Gnade des römischen Kaisers daran machen durfte, die Grundlagen für ein erneuertes Judentum zu legen, sprachen sich für eine scharfe Abgrenzung aus. Ich muss die traurigen und für unser Volk so brutalen Geschehnisse nicht im Detail neu aufrollen. Nur so viel: Nachdem unser Volk aufgrund seines unbotmäßigen, ja frevelhaften Verhaltens von Ihren Legionen besiegt und Jerusalem in den Staub getreten wurde, auch noch unser allerheiligster Tempel in einem Meer der Flammen aufging, mussten wir überlegen, ob und wie jüdischer Glaube auch ohne Tempel überlebensfähig ist. Wir waren nun tatsächlich der Überzeugung, dass es eine Lösung gibt. Die Lösung ist die Tora, die Gott uns gegeben hat und die uns niemand nehmen kann. Aufgrund derselben können wir überall ein frommes Leben führen, auch wenn wir manches durch Interpretation der neuen Zeit anpassen müssen. Nehmen Sie den kultischen Bereich als Beispiel. Wer sagt denn, dass die täglichen Opfer Tieropfer sein müssen? Können nicht auch unsere Gebete solche Opfer sein? So machten wir uns ans Werk, um aus den Ruinen des alten Heiligtums ein neues erstehen zu lassen. Sie werden verstehen, dass dazu ein klares Fundament nötig ist, die Erarbeitung eines Konsenses, den zumindest die meisten teilen. Das wiederum machte Abgrenzungen nötig. Man kann sich dann nicht mehr mit Leuten abgeben, die eher am Rande stehen und diesen Konsens gefährden. Ihnen gegenüber ist eine deutliche Zäsur notwendig. Diesen Schnitt haben viele unserer jüdischen Gemeinden vollzogen. Nicht nur die Nazarener, auch andere häretische Gruppen mussten entscheiden, wie viel ihnen die Zugehörigkeit zum Judentum wert ist.

Eine sehr vernünftige Entscheidung, auch aus einer politischen Perspektive!

Wie meinen Sie das?

Na ja, diese Christen sind ja auch politisch suspekt. Sie beten einen Juden an, der von Rechts wegen zum Tode verurteilt wurde, und zwar aufgrund politischmessianischer Agitationen gegen Rom. Ich meine, es steht Ihnen gut an, sich von solchen Elementen endgültig zu trennen. Sie haben doch selbst erlebt, wohin es führt, wenn man meint, im Namen eines Gottes das Schwert gegen Rom erheben zu können.

Allerdings, das haben wir erlebt. Ich selbst gehörte zu denen, die im belagerten Jerusalem saßen, als die römischen Gruppen uns schwer zusetzten. Mir ging bereits damals auf, dass wir einem Irrglauben auf den Leim gegangen sind. Wir haben gemeint, das göttliche Reich selbst herbeizwingen zu können. Inzwischen wissen wir: Man darf die Zeiten nicht bedrängen. Das ist Unglaube! Mangelndes Vertrauen zu unserem Gott, dem König der Welt, gepriesen sei sein Name. Er wird zu seiner Zeit den universalen Frieden bringen, für uns und alle Völker. Die Realisierung dieses hehren Zieles liegt nicht in unserer Hand.

Vielen herzlichen Dank! Ihre Worte ließen mich manches in Ihrer Religion in einem neuen, ja ich darf sagen, in einem sympathischeren Licht erscheinen.

Dieser narrative Durchgang durch die „jüdisch-christliche“ Geschichte des 1. Jahrhunderts konnte vielleicht ein wenig klarer zeigen, dass das Auseinandergehen der Wege ein komplizierter und vielschichtiger Prozess war. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die groben Linien! Am Anfang gab es noch kein Christentum im Sinne einer eigenständigen Religion, sondern eine innerjüdische Jesusbewegung, die mit vielen anderen „Judentümern“ zusammen das ausmachte, was man als „das Judentum des 1. Jahrhunderts“ bezeichnen kann. Dabei ist ohne weiteres zuzugeben, dass bereits die frühe Jesusbewegung aufgrund des exklusiven Hoheitsanspruches Jesu ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein entwickelte. Man ging davon aus, dass Gott in Jesus Christus in endgültiger Weise gehandelt hat und dass das reale Israel nur dann mit Gottes Willen konform geht, wenn es sich für das Evangelium öffnet.

Doch selbst ein solcher Exklusivitätsanspruch war nicht wirklich singulär innerhalb des damaligen Judentums. Auch die Pharisäer oder die Sadduzäer hatten den Anspruch, das wahre Judentum zu verkörpern. Noch mehr hatten sich die Essener diesen Anspruch auf ihre Fahne geschrieben. Sie begriffen sich aufgrund einer eschatologischen Begründung als die Söhne des Lichts und distanzierten sich aufs Schärfste von den anderen Juden, die sie als Söhne der Finsternis bezeichneten. Keine für ein liberales Denken sehr sympathische Haltung, ohne Zweifel, und dennoch käme niemand auf den Gedanken, sie deshalb als unjüdisch oder gar antijüdisch einzustufen. Es wurden damals harte Kontroversen ausgetragen, die aber trotz allem immer noch „innerhalb der Familie“ stattfanden. Religionssoziologisch gesehen war die entscheidende Frage letztlich, wie man es mit der eigenen Identität hielt. Solange man sich zum göttlichen Bund mit seinem Volk Israel bekannte und die Tora als die für diesen Bund gültige Lebensordnung akzeptierte, stand man trotz aller Unterschiede und Exklusivitätsansprüche auf demselben Fundament. Man konnte den Glauben der anderen kategorisch ablehnen, als Juden, wenn auch als „schlechte“ Juden, waren sie noch immer potentielle Kandidaten für das, was man für den einzig richtigen Weg hielt.

In diesen Rahmen passen auch die im Land Israel lebenden Juden-„christen“ voll und ganz hinein. Sie bekannten sich zum Bund Gottes mit Israel – auch wenn das Ziel dieses Bundes für sie der Glaube an Jesus war. Und sie hielten trotz mancher Modifikationen ganz selbstverständlich an der Tora fest, wie dies Josephus ( JosAnt 20,200; vgl. auch Apg 15,13–21; 21,18–25) als unparteiischer Zeuge glaubwürdig berichtet. Auf diese Weise konnten sie bis zum Ausbruch des jüdisch-römischen Krieges, also immerhin drei bis vier Jahrzehnte, problemlos als integraler Bestandteil des jüdischen Volkes in Israel leben, sich selbst so begreifen und auch von anderen so verstanden werden.

Völlig anders dagegen lief die Entwicklung bei den zum Glauben an Jesus Christus gekommenen Diasporajuden ab, den so genannten „hellenistischen Juden“. Diese hatten vermutlich schon vor ihrer Hinwendung zum christlichen Glauben ein stärker spirituell-allegorisches Toraverständnis, was allerdings nicht bedeutet, dass sie den wörtlichen Sinn der Gebote nicht mehr ernst nahmen. In jedem Fall waren sie stärker universalistisch ausgerichtet, begegneten der paganen Gesellschaft in offenerer Weise, so dass es kein Zufall ist, dass sich gerade diese Gruppen für die Heidenmission öffneten. Vor allem die dann von Paulus nachdrücklich vertretene Überzeugung, dass Nichtjuden auch ohne Toraobservanz – also ohne Juden werden zu müssen – am Heil teilhaben und zum eschatologischen Gottesvolk dazugehören können, hat bezüglich der nationalen und religiösen Identitätsfrage bei dieser Gruppe Entscheidendes verändert. Es entstand ein sehr völkerfreundliches und assimilationsbereites Selbstverständnis, das andere Juden als gefährliche Infragestellung der Tora und als beginnende Aushöhlung jüdischer Identität verstehen konnten.

Auf lange Sicht dürften die daraus resultierenden Konflikte auf Seiten der hellenistischen Judenchristen die Tendenz verstärkt haben, die eigene und eigentliche Identität nun endgültig in der christlichen Gemeinde zu suchen. Aufgrund dieser Entwicklung wurde es auch für die im Lande Israel lebenden Judenchristen immer schwerer, die Verbindung zu ihren nichtjüdischen Glaubensgeschwistern aufrecht zu erhalten. Eine Zeit lang konnten sie sich im Sinne einer Arbeitsteilung (Gal 2,7–10) damit trösten, dass sie selbst ihren Auftrag innerhalb des jüdischen Volkes zu erfüllen hatten, während die anderen eben zu den Heiden gesandt waren. Doch lange ließ sich dieser schwierige Balanceakt nicht durchhalten. In dem Maß, in dem die heidenchristlichen Gemeinden an Stärke zunahmen, wurde aus jüdischer Sicht die Frage immer brennender, ob die palästinischen Judenchristen die hellenistisch-judenchristliche Relativierung der Tora für gut hießen oder nicht. Sie mussten sich entscheiden, auf welcher Seite sie zu stehen gedenken.

Endgültig war der Punkt der Entscheidung dann infolge des jüdisch-römischen Krieges (66–73 n. Chr.) und der dadurch ausgelösten innerjüdischen Krise gekommen. Jüdischer Glaube, so viel war klar, hatte nach dem Verlust des Tempels als kultischen Mittelpunktes nur dann eine Zukunft, wenn es den führenden jüdischen Kreisen gelingen würde, ein Judentum zu etablieren, das auch ohne Tempel zukunftsfähig ist. Es war eine radikale Neukonstitution nötig geworden, die nicht zu haben war, ohne dass man sich jüdischerseits von allen Elementen trennte, die nicht bereit waren, sich dem neuen Konsens anzuschließen, die also eine Gefährdung der sich gerade herausbildenden jüdischen Identität darstellten. Die ganze Frage, was denn wahres Judentum im Kern bedeutet, konnte jetzt nicht länger unter dem Teppich gehalten werden, sondern musste um der jüdischen Zukunft willen zur Entscheidung gebracht werden. So entstand das pharisäisch-rabbinische Judentum, das bis heute die Grundlage der Orthodoxie darstellt. Man muss sich diese Phase jüdischer Geschichte wie einen engen Schlauch vorstellen, durch den keine Gruppe hindurchkam, die nicht dem zur Norm erhobenen pharisäisch-rabbinischen Maßstab entsprach. Das Schicksal der Ausgrenzung blieb deshalb auch nicht auf die jesusgläubigen Juden (innerhalb und außerhalb Palästinas) beschränkt, sondern wurde auch von Sadduzäern, Essenern und anderen Gruppen geteilt. Dabei spielt es keine große Rolle, ob es nun schon damals einen offiziellen Beschluss gab, den so genannten „Ketzersegen“ (Birkat-ha-Minim)26, durch den häretische Gruppen, also auch Judenchristen, im synagogalen Gebet faktisch aus der jüdischen Gemeinschaft ausgestoßen wurden, oder ob die Ausgrenzung regional unterschiedlich und eher fließend vor sich ging. Gab es für die Judenchristen in Israel unter diesen Bedingungen überhaupt noch eine Chance, im Verband des Judentums zu bleiben? Völlig auszuschließen ist das für kleinere Gruppen oder Einzelne zwar nicht, aber aufs Ganze gesehen ist die Frage eher zu verneinen. Ein offenes Bekenntnis zur Völkermission und ein auch nur begrenzter Kontakt zu heidenchristlichen Gruppen musste auf Dauer eine zunehmende Distanzierung von Seiten der jüdischen Glaubensgenossen zur Folge haben. Es blieben für Judenchristen eigentlich nur drei Möglichkeiten:

  1. (1) Man betonte seine jüdische Identität und blieb Jude. Das christliche Bekenntnis reduzierte sich auf einige messianische Besonderheiten, die nicht weiter störten und die vielleicht auch verborgen gehalten werden konnten.

  2. (2) Man entwickelte sich zu einer mehr oder weniger von Kirche und Synagoge gemiedenen judenchristlichen Sekte.

  3. (3) Man hielt sich zur entstehenden Großkirche, versuchte noch einige jüdische Identitätsmerkmale beizubehalten, riskierte aber letztlich, die jüdische Identität aufzugeben und in der Kirche aufzugehen.

  4.  

Alle drei Möglichkeiten sind vermutlich realisiert worden, wobei der erste Fall schwer nachzuweisen ist, da man aufgrund der schwach ausgebildeten christlichen Identität kaum explizite Zeugnisse finden wird. Judenchristliche Sekten jedenfalls sind in zahlreichen Varianten bis in die frühislamische Zeit hinein belegt. Auch der dritte Fall lässt sich kirchengeschichtlich gut belegen. Betrachtet man diese Entwicklung aus unserer heutigen Perspektive, dann haben am jüdisch-christlichen Schisma – jedenfalls in einem moralischen Sinn – weder Juden noch Christen Schuld. Juden konnten sich aus einer nachvollziehbaren Glaubensentscheidung heraus nicht mehrheitlich für den Glauben an Jesus entscheiden und mussten sich aufgrund ihres Bundes- und Toraverständnisses – besonders im Zusammenhang mit den Ereignissen um 70 n. Chr. – von den Christen trennen. Umgekehrt konnten christusgläubige Juden, die der Auffassung waren, dass man sich schon jetzt – noch bevor alle Juden den Messias annahmen – den Heiden zuwenden müsse, ihre Erkenntnis nicht aufgeben, selbst wenn darin ein gewaltiges Konfliktpotential lag. So ist man fast versucht, von einem tragischen Konflikt zu sprechen. Denn auch wenn wir als Christen der innersten Überzeugung sein mögen, dass Judentum und Christentum eigentlich zusammengehören, müssen wir uns doch der Tatsache stellen, dass dies aufgrund eines massiven Glaubensunterschiedes einfach nicht möglich war. Auf diesem Hintergrund hat Karl Barth vollkommen recht, wenn er 1966 in Rom bekannte: „Die ökumenische Bewegung wird deutlich vom Geiste des Herrn getrieben. Aber wir sollen nicht vergessen, dass es schließlich nur eine tatsächlich große ökumenische Frage gibt: unsere Beziehungen zum Judentum.“27

Bezogen auf das Statement von Rosemary Ruether, Antijudaismus sei die linke Hand der Christologie, ist deshalb vorerst zu sagen: Die Wege gingen nicht primär wegen einer zu exklusiven Christologie auseinander. Solange das Judentum in seiner vor 70 n. Chr. existierenden Pluralität bestand, war ein Rahmen gegeben, in dem extreme Glaubensunterschiede durchaus nebeneinander bestehen konnten. Der Bruch kam erst dadurch zustande, dass bestimmte historische Konstellationen eine neue Identitätsbestimmung notwendig machten. Erst unter diesen Umständen musste die universale und völkerfreundliche Lebens- und Glaubenspraxis des Christentums Juden als existentielle Bedrohung ihrer Identität erscheinen. Da es nun aber fest zur christlichen Identität gehörte, das Evangelium als eine alle Völker angehende Botschaft zu verkündigen, konnte man diese Botschaft „um des lieben Frieden willen“ auch nicht einfach verschweigen. Man hätte das nur in einem Akt des Ungehorsams gegenüber dem Gott Israels (!) tun können. Auch wenn diese Glaubensüberzeugung ihre Basis in der christologischen Grundüberzeugung der christlichen Gemeinde hat, wird eine allein auf die Christologie konzentrierte Fragestellung der vielschichtigen Gemengelage nicht gerecht. Mindestens genauso, wenn nicht sogar noch wichtiger, war die Frage, was das Wesen des Gottesvolkes ausmacht und welche Bedingungen jemand erfüllen muss, wenn er zum wahren Gottesvolk gehören will.

(aus: Peter Hirschberg, Die bleibende Provokation. Christliche Theologie im Angesicht Israels, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 6-19)

12 Zur Einbettung Jesu ins zeitgenössische Judentum des 1. Jahrhunderts s. vor allem Theissen/Merz, Jesus, bes. 22–34, 125–146, 311–358; Hirschberg, Jesus, bes. 11–24, 102– 107, 114–131. Jüdische Darstellungen: Vermes, Jesus; Flusser, Jesus; Heiligenthal, Jesus 37–52; zur älteren jüdischen Jesusforschung s. Lindeskog, Jesusfrage.
13 Dazu Hengel, Zeloten.
14 Dazu Hirschberg, Jesus 166–170; dort auch weiterführende Literatur.
15 Dazu s. Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte 128–211.
16 Dazu s. Kraus, Jerusalem 26–54.
17 Die Bezeichnung der Christen als Nazarener ist in Apg 24,4 belegt und taucht dann wieder bei Terullian (Adv. Marc. 4,8) und Epiphanius (Epiph. Pan. 29 1,3) auf. Sie könnte wie Pritz, Christianity 13f zeigt, auf Jes 11,1 zurückgehen, sich also auf den dort genannten messianischen Spross (= nezer) beziehen, hat also erst einmal nichts mit Nazareth als Herkunftsort Jesu zu tun.
18 Kraus, Jerusalem 44–55, zeigt anhand der Stephanusrede (Apg 7,2–53) auf, dass bei den hellenistischen Judenchristen Jerusalems keine programmatische Gesetzeskritik vorliegt. Die jüdische Kritik entzündete sich vor allem an der Ablehnung des Tempelkults durch die Hellenisten, und diese dürfte in ihrer Basis auf Jesus zurückgehen. Die Hellenisten sahen in Jesus und seinem Tod eine „eschatologische Überbietung des Ortes der Sühne, Epiphanie und Präsenz Gottes. … Den ‚Hellenisten‘ ging es nach der Darstellung der Apg nicht um eine grundsätzliche Ablehnung des Gesetzes, sondern um Kultkritik, und nur insofern und im Zuge dessen um Kritik am Gesetz.“ So Kraus, Jerusalem 54.
19 Walter, N., Hellenistische Diaspora-Juden an der Wiege des Urchristentums 383–404, in: ders., Praeparatio, sieht darin ein entscheidendes Motiv der Jerusalemer Hellenisten um Stephanus.
20 Vor allem Räisänen, H.‚ The ‚Hellenists‘ – a Bridge between Jesus and Paul 286ff, in: ders., Torah 242–306, sieht in diesen spirituell-allegorischen Tendenzen einen Grund für den Verzicht auf Beschneidung und die Öffnung für die Völkerwelt.
21 Auch wenn das primäre Motiv hinter der Ablehnung des Tempelkultes bei der Stephanusgruppe ohne Zweifel das eschatologische Verständnis des Todes Jesus ist, sollte man nicht bestreiten, dass das allegorische Gesetzesverständnis zu einer Offenheit für solche Deutungen beigetragen hat. Ein allegorisch-spirituelles Toraverständnis hat freilich nicht automatisch zur Folge, dass man den wörtlichen Sinn der Tora nicht mehr ernst nimmt.
22 Dazu s. Neues Testament/Antike Kultur I 86–90; Kraus, Jerusalem 69.
23 Eine kurze Zusammenfassung der Entwicklung findet sich bei Kraus, Jerusalem 55–
81.
24 Hier kann man an die so genannten Judaisten denken, mit denen Paulus sich auseinanderzusetzen hatte (z.B. in Gal 3 u. 4), die aber auch in Jerusalem präsent waren (Gal 2,4f; Apg 15,1–3).
25 Zur Geschichte des Judenchristentums s. Scarsaune/Heidar, Jewish Believers. Dort findet sich auch zu allen relevanten Forschungsgebieten die entscheidende Literatur.
26 Dazu s. Thoma, Messiasprojekt 339–352.
27 Zit. nach Rijk, Band 44.

Wird fortgesetzt. In den nächsten Blickpunkten: Das christlich-jüdische Verhältnis im Spiegel des Neuen Testaments - Zwei Thesen

zur Titelseite

zum Seitenanfang

Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email