Enterbungslehre (= Substitutionslehre)
von Klaus-Peter Lehmann

Dieser Begriff bezeichnet ein tiefes Vorurteil, das den christlichen Glauben in seiner Geschichte und allen seinen Formen bisher geprägt hat. Es geht um den Gedanken, dass die christliche Kirche Israel als Gottes Bundesvolk enterbt bzw. ersetzt (= substituiert) habe. Als Strafe für den angeblichen Mord an Christus (= Gott; > Gottesmordlüge) sei Jerusalem zerstört worden, hätten die Juden ihr Land verloren und würden nun über alle Länder zerstreut heimatlos in der Welt umherirren. Rettung bestünde für sie allein in der Taufe, d.h. wenn sie ihre materielle Hoffnung auf eine Rückkehr in das Land Israel aufgeben zugunsten des in Christus allen Menschen verkündeten spirituellen Himmelreiches.

Gotteslehre, Heilsgeschichte, Ethik, alle Felder der christlichen Theologie sind von dem das biblische Zeugnis entstellenden Gedanken einer Ablösung des alten Jüdischen durch das neue Christliche, das Jesus gebracht haben soll, geprägt: der zornige Gott der Gebote sei abgelöst worden durch den Gott der Barmherzigkeit; die geschichtliche Hoffnung für ein Volk und sein Land durch die übergeschichtliche Hoffnung für alle Völker; äußerliche > Gesetzesfrömmigkeit durch von Herzen kommende > Nächstenliebe. Die kirchliche Auslegung der Bibel wurde durch dieses Vorurteil derart verfälscht, dass sich im Ergebnis ein hell strahlender christlicher Glaube vom jüdischen wie von einer schwarzen Folie abhob. Das Christentum definierte sich durch die Verneinung des Jüdischen.

Radikalisiert wurde diese Sicht in den mittelalterlichen antijüdischen Legenden, die ganz auf die Stigmatisierung der Juden abhoben. In ihnen entfaltet die > Gottesmordlüge ihre mörderische Brisanz. Alles, was Juden tun, kam so in den Geruch verbrecherisch zu sein. Die Kirche sah sich als das siegreiche neue Gottesvolk und fühlte sich berufen, Gottes Strafe am untreuen und verkommenen Volk der Juden zu vollziehen. Diese Vorurteile erklären die prekäre soziale Lage der Juden im christlichen Abendland. Seit den > Kreuzzügen war ihre Existenz immer wieder von Pogromen bedroht. > Ritualmordlegenden, Legenden über > Hostienfrevel, begründet in  der > Wandlungslehre, > Verteufelung des Talmud und der Vorwurf der > Brunnenvergiftung waren seit dem 13. Jahrhundert Magneten der Volksfrömmigkeit. Da nach dem Urteil von Historikern das Christentum und der Antijudaismus bis zu dieser Zeit im Volk noch nicht Wurzel gefasst hatten, drängt sich die Frage auf, ob die verbreitete Frömmigkeit des Hochmittelalters im wesentlichen auf antijüdischen Wahnideen und Volksverhetzung beruhte, darauf, „dass die Liebe zur Kirche auch im Hass auf die Juden ihren Ausdruck finden müsse.“  (1) 

Die Enterbungstheologie, verkoppelt mit dem Vorwurf des Gottesmordes, verteufelt die Juden zu verbrecherischen religiösen Subjekten. Die christliche Diabolisierung der Juden überlebte in der Neuzeit in säkularer Verkleidung, in der Wahnidee einer nach Weltherrschaft trachtenden parasitären Rasse.

In  milderer Form lebt die Enterbungslehre in allen kirchlichen und außerkirchlichen Gedankengebäuden fort, in denen das Judentum für eine religiöse oder kulturelle Wirklichkeit steht, die veraltet und inhuman ist. Dazu gehört die Anschauung, dass Jesus eine neue menschliche Religion der Liebe begründet habe, durch die der jüdische Stammes- und Gesetzesglaube überwunden worden sei. Besonders außerhalb der Kirchen steht das Judentum wegen der Verehrung des einzigen Gottes oft für religiöse Intoleranz (> Monotheismus) und gesellschaftliche Unterdrückung bzw. Diktatur (> Patriarchalismus).

Seit dem Bestehen eines christlich-jüdischen Dialoges in den evangelischen und der katholischen Kirche, seit dem 2. Vatikanischen Konzil und diversen Erklärungen evangelischer Kirchen zum Verhältnis von Kirche und Synagoge gilt die Enterbungslehre als überwunden. Eine endgültige Beurteilung ist z. Zt. schwierig. Fast alle Kirchen haben in öffentlichen Stellungnahmen die unwiderrufliche Erwählung Israels zu Gottes ewigem Bundesvolk als zum christlichen Glauben gehörig bekannt. Ob sie deshalb auch zu allem stehen, was dieser Glaubenssatz theologisch nach sich zieht, ist vermutlich eine andere Frage. Dazu gehören, dass der Glaube an Jesus Christus die Kirche von der Synagoge nicht trennt, sondern mit ihr vereint in der Hoffnung auf das Reich Gottes; dass die Sendung der Kirche in die Welt ein unbedingt solidarisches Verhältnis zum Staat Israel bedeutet; dass die Kirche keinen Missionsauftrag gegenüber dem Judentum hat, weil sie in der Nachfolge Christi Diener der Beschnittenen (Röm 15,8) ist; dass alle Verkündigung der Kirche Dienst an Israel ist.

    • W. Laqueur, Gesichter des Antisemitismus, Berlin 2008, S. 68f. Der Autor weist auch auf das päpstliche Versprechen an alle Kreuzzugsteilnehmer hin, „dass jedem, der auch nur einen einzigen Juden töte, alle Sünden erlassen würden.

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