Ein Brief an Sami von Dan zum Jüdischen Neujahrsfest am 8. September 2007
von Daniel Bar-On (gest. 2008)

Neuerdings werde ich öfters gefragt, wie ich es schaffe, mich diesen beiden Gebieten gleichzeitig zu widmen: den jüdisch – deutschen Beziehungen nach der Schoah und dem israelisch – palästinensischen Konflikt. Für viele israelische Juden ist es eine Notwendigkeit, diese beiden Gebiete strikt auseinanderzuhalten. Sie fürchten sich hauptsächlich vor dem vulgären Vergleich („was ihr mit den Palästinensern macht, ist das Gleiche, was die Nazis mit euch machten“). Meine Antwort dazu ist: Wir müssen einen Weg finden, die Beziehung zwischen diesen beiden Sphären zu beschreiben; denn persönlich haben wir Anteil an beiden.

Als wir die Geschichten von der Schoah hörten, da wurde uns eines nicht erzählt: dass um die gleiche Zeit, 1948, eine andere Gesellschaft - die Gesellschaft deines Volkes - durch uns zerstört wurde, absichtlich und unbeabsichtigt. Es dauerte eine Zeit, bis ich und einige andere aus meinem Volk lernten (die große Mehrheit hat es noch gar nicht begriffen), dass es 1948 einen Absichtsplan gab, der vorsah, so viele wie möglich von euch aus Israel zu vertreiben, so dass wir eine jüdische Mehrheit in diesem Lande haben würden.

Ich glaube, dass nicht wenige und besonders die jungen Leute Benny Morris’ Bücher gelesen haben und heute wissen, dass es damals eine solche Absicht gab. Manche mögen dies noch immer rechtfertigen, aber viele andere schämen sich dafür. Was sie daran hindert, unsere kollektive (und persönliche) Verantwortung für diese Abscheulichkeiten einzugestehen, ist die Angst, dass wir mit einem solchen Eingeständnis die Rechtfertigung für unseren unabhängigen Staat verlieren könnten.

Ich selber habe einen Punkt erreicht, an dem mir bewusst ist, dass ich die Wirkung eines solchen Eingeständnisses nicht mehr kontrollieren kann (…). Ich sehe den Wert unseres Eingeständnisses darin, dass es eine neue und positive Dynamik zwischen unseren beiden Völkern erzeugen könnte, die keine bewaffnete Streitkraft jemals erreichen kann. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass unser Eingeständnis auch eine neue Offenheit unter deinen Leuten mit sich bringen könnte, eine Bereitschaft, unsere seit langem bestehende Verweigerung angesichts unserer Leiden während der Schoah besser zu verstehen - wie das Erlittene unsere Augen blendete, wie es unsere Herzen verschloss, unsere Ohren verstopfte, alle diese Jahre lang.

Ich komme zurück auf die Beziehung zwischen den beiden Bereichen meiner Arbeit und erzähle dir eine kleine Geschichte dazu: Ein Überlebender der Schoah half nach dem Krieg von 1948 in einem Kibbutz in Galiläa, Steine aus einem nahegelegenen arabischen Dorf zu schleppen, dessen Bewohner zuvor vertrieben worden waren. (Ursprünglich waren diese Leute den jüdischen Siedlern freundlich begegnet.) Mit den Steinen sollte ein Kulturzentrum im Kibbutz errichtet werden (…) Dem Überlebenden war möglicherweise nicht bewusst, was er tat und er verstand nicht, dass er mit seinen Händen anderen Menschen ein nicht wieder gut zu machendes Leid zufügte, ein Leid, das seinem eigenen glich. (…) In seinem Herzen, das zu dieser Zeit von tiefem Schmerz erfüllt gewesen sein muss, nahm er deine Leute einfach nicht wahr. Sein Mangel an Verständnis und emotionaler Offenheit deutet auf etwas, was viele aus meinem Volk bis heute nicht verstehen: Wie die Ereignisse der Schoah und die Kriege hier in vielen Israelis bis auf den heutigen Tag die Gefühle für den Anderen absterben ließen. Die Angst und die Illusion, mit Gewalt der Lage Herr zu werden, halfen bei der Radikalisierung der Aktionen und Absichten gegenüber deinem Volk. Dabei wurde nicht bedacht, dass es andere Optionen gegeben hätte - und immer noch gibt-, um positivere Beziehungen zwischen unseren Völkern zu entwickeln.

Auszüge; Übersetzung aus dem Englischen: Edith Lutz.
Für den vollständigen Inhalt s. http://jvjp.ch
Zu Daniel Bar-On siehe auch Materialdienst 3/2002 (Print) und 5/2006

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