Spricht das Neue Testament von der Kirche als „dem Volk Gottes“?
von Klaus-Peter Lehmann

Es scheint noch nicht ausgemacht, von wo aus der kirchliche Antijudaismus seinen unheilvollen Weg genommen hat. Vom Neuen Testament? Von der Konkurrenz der früh in Gegensatz geratenen synagogalen und christlichen Gemeinden? Vom Alleinvertretungsanspruch der Kirche? Keine der Möglichkeiten kann a priori ausgeschlossen werden. Von besonderer theologischer Relevanz allerdings wäre Antijudaismus im Neuen Testament. Denn er würde die inhaltliche Integrität des von der Kirche zu predigenden Kanons berühren. Datierungsauskünfte wie z.B., der Titusbrief sei eine späte Schrift, sind Äußerungen der Verlegenheit. Auch zentrale Schriften wie Matthäus und Johannes sollen antijudaistische Stellen beherbergen. Das Problem lässt sich nur mit genauem exegetischem Hinsehen lösen. Das gilt auch für die beiden NT-Stellen, die K. Wengst in  Blickpunkt.e 2/15, S.12 anführt. Hier soll sich die Gemeinde Christi als „das Volk Gottes“ bezeichnen. Das wäre krasse Enteignungstheologie an Israel, am Judentum.

Werfen wir einen Blick auf den 1. Petrusbrief. In einem Gespräch anlässlich seines 85. Geburtstages wies Eberhard Bethge auf 1.Petr. 2,9 hin, wo unsere deutschen Bibeln wiedergeben: Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, „während der Artikel im Urtext überhaupt nicht steht. Und wie folgenreich das ist.“ Es ist „kein Bewusstseinsinhalt geworden, dass da nur steht: Ihr seid auserwähltes Volk, ihr seid königliches Priestertum, aber nicht >das<.“  (1)  K. Wengst bezieht sich zwar auf den folgenden Vers 10, wo der Apostel Petrus Hosea zitiert: Die ihr ehemals 'nicht Volk' (ou laos) jetzt aber Volk Gottes (laos theou) seid. Auch wenn die Hernahme von Hosea als exegetischer Bezug für die Hinzuerwählung der Gemeinden Jesu problematisch sein sollte, der durch das Fehlen des bestimmten Artikels in Vers 9f klare Sinn des ganzen Abschnittes, dass es sich nämlich nur um eine Hinzuerwählung und nicht um eine Substitution oder Enteignung Israels handelt, wäre davon nicht in Frage gestellt.

Man sollte vielmehr den Blick darauf richten, wie Petrus in äußerst gedrängter Deutlichkeit die Hinzuerwählung von Heiden beschreibt: Ihr seid heilige Ethnie (ethnos hagion), Volk des Eigentums (laos peripoieesin), damit ihr die Guttaten dessen verkündet, der euch aus Finsternis gerufen hat in sein wunderbares Licht (1.Petr. 2,9f). Man könnte auch geheiligte Ethnie sagen. Gemeint ist, dass Heidnische kadosch (hebr.: heilig, ausgesondert) geworden sind, und dass sich Gott aus der „massa perditionis“ der Heiden laos erworben hat, das seine Taten lobt. Unmöglich wäre zu sagen, dass Israel aus verderblicher Finsternis gerufen wurde. Es wurde von den Erzvätern im Horizont der Abrahams-Verheißungen und im Auszug aus Ägypten zum Volk gebildet (Ex 6,7). Ohne das Licht der Hoffnung, weil fremd den Bündnissen der Verheißung, waren aber die Heiden (Eph 2,12).

Und wie verhält es sich mit dem Apostel Paulus in der Unterweisung für seinen Schüler Titus? Ersetzt er Israel als Eigentumsvolk Gottes durch die Kirche? Wir übersetzen die inkriminierte Stelle des Briefes an Titus (2,14) so: der sich selbst hingegeben hat für uns, damit er uns befreie von aller Thorawidrigkeit (apo pasees anomias) und für sich selbst reinige Eigentums-Volk (laon periousion), wetteifernd in guten Werken. Auch hier fehlt der bestimmte Artikel. Der fehlt allerdings auch in der Septuaginta-Variante von Ex 19,5: Ihr werdet mir Eigentums-Volk vor allen Ehnien (laos periousios apo pantoon toon ethnoon) sein. Doch Paulus übernimmt nicht die exklusive Eingrenzung des angesprochenen Israel vor allen Ethnien (gojim). Müsste er das nicht aber tun, wenn ihm daran läge, Israel zu ersetzen bzw. zu paganisieren? Derlei Absicht halte ich für unwahrscheinlich bei einem Mann, der das Werk Jesu Christi als die Befreiung der heidnischen Völker von aller Thorawidrigkeit verkündet. Wie sollte ein solches messianisches Befreiungswerk nicht vielmehr Israel zugute kommen? Würde die Völkerwelt immer mehr zur Liebesforderung der Thora bekehrt und mit dem Gott Israels versöhnt (Röm 15,10; Eph 2,16), dann könnte sich das Gottesvolk aus der Hand seiner Feinde befreien (Lk 1,71) und die verfallene Hütte Davids wiederaufrichten (Apg 15,16).

(1)  Materialdienst Ev. Ak Kirche und Israel Hessen-Nassau, Nr. 4/1995, S. 15-18

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