Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 3 / Juni 2016

 

Micha Brumlik
Jüdischer Fundamentalismus

Als vor beinahe zwanzig Jahren, im Sommer des Jahres 1995, eine Gruppe von Rabbinern die Soldaten der israelischen Verteidigungsarmee aufforderte, eventuellen Räumungsbefehlen gegenüber Siedlungen in der West Bank nicht Folge zu leisten und ihnen deshalb breiter Protest sogar politisch rechts stehender Kreise entgegenschlug, schien dies den Zenit des fundamentalistischen Projekts zu markieren. Doch der Mord an Yitzhak Rabin, die Niederlage von Simon Peres bei den darauf folgenden Wahlen und die kompromisslose Haltung des vormaligen Premiers Benjamin Netanyahu haben schon damals bewiesen, dass dies erst der Anfang war. Jüdischer Fundamentalismus, das ist heute in politischer Hinsicht in erster Linie der Fundamentalismus jüdischer Siedler in der West Bank.

Die Väter des Fundamentalismus
Wer waren und sind diese Fundamentalisten? Die stärkste gegenwärtig aktive Persönlichkeit ist der 1972 in Haifa geborene Naftali Bennett, Vorsitzender der mit beinahe sieben Prozent in der Knesseth vertretenen Partei „Jüdisches Heim“ (Ha Bajit ha jehudi), der detaillierte Pläne zur Annexion von Teilen der West Bank vorgelegt hat und vor seiner politischen Karriere ein überaus erfolgreicher, im persönlichen Auftreten höchst moderner, überdurchschnittlich reicher „Start Up“- Unternehmer war. Er steht in der Tradition dreier Männer:

• Zunächst der 1935 geborene Rabbiner Moshe Levinger, ursprünglich ein sozial gesonnener, sozialistisch eingestellter Mensch. Er lebte in einem Kibbuz und studierte ab 1962 für einige Jahre in einer Jeschiwa, einer talmudisch-rabbinischen Akademie, die jedoch in vielen Fällen herkömmlichen akademischen Kriterien nicht genügt. Das Lernen geht dort extrem intensiv, nicht quellenkritisch, aber dafür kasuistisch genau vor sich. Das Studium wird nicht mit einem förmlichen Abschlussexamen beendet, sondern nach Gutdünken der an der Akademie lehrenden Rabbiner. Sind sie der Meinung, dass ein Student innerhalb von dreieinhalb bis vier Jahren genug gelernt hat, erteilen sie ihm die rabbinische Ordination. Mosche Levinger besetzte nach den Waffenstillstandsverhandlungen des Juni-Krieges von 1967 in der Stadt Hebron – der Stadt der Patriarchen – ein Hotel und hat seither mit seinen Anhängern die Stadt nicht mehr verlassen. Diese wenigen Siedler leben dort in abgezirkelten, vom israelischen Militär bewachten Zonen inmitten einer feindseligen Bevölkerung, die sie selbst zutiefst verachten.

• Der zweite Fall ist der aus den USA stammende Arzt Baruch Goldstein, der 1994 in Hebron, mit einer Maschinenpistole bewaffnet, 29 betende muslimische Palästinenser am Grab Abrahams erschoss und dabei selbst ums Leben kam. Goldstein repräsentiert jene politisch eher rechts stehenden jüdisch-amerikanischen Siedler, die z.B. aus Brooklyn/ USA nach Israel gekommen sind. Er entstammt einem jüdischen Milieu, das sozial minder arriviert ist. Goldstein wird bis heute von seinen Anhängern als Märtyrer verehrt, sein Grab ist eine Kult- und Pilgerstätte.

• Schließlich ist Yigal Amir zu nennen, der Ende des Jahres 1995 (er war 27 Jahre alt, Student der Rechte) Yitzhak Rabin ermordete, um zu verhindern, dass der in Oslo eingeleitete Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern fortgesetzt wird. Yigal Amir behauptete, von einem inoffiziellen rabbinischen Gerichtshof eine entsprechende Tötungserlaubnis erhalten zu haben. Demnach sei Yitzhak Rabin sei ein „Rodef“ gewesen, so der traditionelle hebräische Ausdruck für einen „Verfolger“, einen „Vernichter“, einen Todfeind des jüdischen Volkes gewesen. Anders als das Neue Testament hat das rabbinische Judentum immer ein grundsätzliches Recht auf Notwehr anerkannt. Dieses Recht auf Notwehr hat Yigal Amir bei seinem Mord an Rabin für sich in Anspruch genommen, da er der Ansicht war, dass dessen Friedenspolitik das Überleben des jüdischen Volkes unwiederbringlich bedroht. Amir sitzt bis heute im Gefängnis.

Die Siedler
Wer aber sind die übrigen, inzwischen mehr als 250.000 Siedler in der West Bank? Sind sie alle überzeugte Fundamentalisten? Eine große Mehrheit stellen kinderreiche Familien. Sie wären, gemäß einer Umfrage der israelischen Friedensbewegung, zu mehr als zwei Dritteln bereit, wieder hinter die Grenzen von 1967 zurückzukehren. Es handelt sich um Menschen, die mit dem Versprechen billiger Mieten und günstiger Kredite auf die West Bank gelockt wurden. Aus ganz anderem Holz geschnitzt ist aber eine Gruppe von ungefähr 40.000 bis 50.000 Personen, die diese Siedlungen aus weltanschaulich-religiösen Gründen betreiben und sich nur mit Gewalt von dort entfernen lassen.

Ihr Siedlungsprogramm ist doppelt begründet. Zum einen biblisch, nach dem Motto: Wenn wir Juden nicht in Judäa und Samaria und nicht in der Hauptstadt der Patriarchen, in Hebron, wohnen dürfen, dann erst recht nicht in Tel Aviv, da an der Küste einst die Philister lebten. Wenn es also überhaupt – so ihre Argumentation – so etwas wie ein Recht der Juden gibt, in Israel zu siedeln, dann in jenen Ländereien, die die Bibel gemäß Genesis 15 vorgesehen hat. Zum anderen beziehen sich viele radikale Siedler auf den furchtbaren Pogrom des Jahres 1929, als sich ein erregter arabisch-muslimischer Mob im Widerstand gegen die zionistische Besiedlung des Gebiets ausgerechnet über die Juden Hebrons hergemacht hat, über Juden, die dort seit Jahrhunderten lebten und das zionistische Unternehmen in keiner Weise unterstützt hatten.

Betrachtet man das Sozialprofil der Siedler im Unterschied zur allgemeinen israelischen jüdischen Bevölkerung, fällt folgendes auf. Erstens sind sie deutlich kinderreicher, zweitens sind sie in ihrem harten Kern deutlich religiöser. Drittens handelt es sich fast ausschließlich um aschkenasische Juden. Bei den Siedlern finden sich kaum Personen aus dem arabischen, iranischen oder anderen Judentum, das nach 1948 nach Israel ausgewandert bzw. dorthin vertrieben worden ist. Eine vierte Eigentümlichkeit ist, dass der harte Kern der Siedler fast ausnahmslos aus Akademikern besteht. Unter ihnen finden sich nicht wenige Baale teschuwa. Ins Deutsche übersetzt bedeutet dieser hebräische Ausdruck „Menschen der Umkehr“ und verweist auf Personen, die sich in ihrer späten Adoleszenzkrise Mitte der zwanziger Jahre wieder zum Glauben entschlossen haben. Fünftens kann man feststellen, dass ein nicht geringer Anteil US-amerikanischer Juden, die im Zuge des Niedergangs der Hippie-Bewegung der späten 60-er Jahre, die ja auch eine spirituelle Suchbewegung war, schließlich auf seine jüdischen Wurzeln gestoßen ist.

Historische Hintergründe
Wie konnte es zum Siedlerfundamentalismus kommen? Bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts lehnten die wesentlichen religiösen Strömungen des Judentums – Orthodoxie und Neoorthodoxie, Chassidismus und Reformjudentum – den Zionismus aus unterschiedlichen Gründen ab. Während die eher assimilationswilligen Reformjuden den Zionismus zurückwiesen, weil er die durch die Zerstreuung bewirkte Universalisierung des Judentums rückgängig zu machen drohte, lehnten die toratreuen Strömungen ihn genau deshalb ab, weil er die alleine Gott vorbehaltene Rücknahme der Zerstreuung durch eigenmächtige Vorwegnahme in blasphemischer Weise gefährdete.

Die theologische Auflösung dieser Widersprüche schuf die Grundlage für das, was heute als jüdischer Fundamentalismus gilt. Die entsprechende theologische Theorie wurde in den zwanziger Jahren von dem letzten, in Litauen gebürtigen kabbalistischen Mystiker von Rang, von Rabbi Israel Kuk (1865-1935) entfaltet. Kuk, erster aschkenasischer Oberrabbiner im britischen Mandatgebiet Palästina, wollte den Bruch von jüdischer Tradition und säkularem Nationalismus mit den Mitteln kabbalistischer Spekulation kitten. Die im 16. Jahrhundert entstandene lurianische Kabbala, eine spekulative, mystische jüdische Geheimlehre, geht von der Annahme aus, dass nach dem Schöpfungsakt, den die Kabbala als Zusammenziehung Gottes versteht, Funken göttlichen Lichts in die Gefangenschaft der Materie verbannt werden und daß es die Aufgabe der Menschheit im allgemeinen, vor allem aber der Juden sei, die verbannten göttlichen Funken durch Mitzvot (die von der Tora gebotenen guten Werke) aus der Verbannung heimzuführen und damit einen Beitrag zur Heilung der Welt – hebräisch – Tikkun Olam – zu leisten. Raw Kuk identifizierte das seiner Meinung nach gänzlich verkarstete und vernachlässigte Territorium Palästinas – das gleichwohl nicht wenigen arabischen Bauern jahrhundertelang zur Subsistenz gedient hatte – als einen wesentlichen Teil der gefallenen Welt, als eine jener Hüllen, die die gefallenen göttlichen Funken umschließt, weswegen seiner Überzeugung nach die landwirtschaftliche Pionierarbeit sogar atheistischer jüdischer Sozialisten den Beginn der eschatologischen Erlösung Israels anzeigten. „Und so kann kein Zweifel daran bestehen“, schrieb Rav Kuk, „dass die große Bewegung des Zionismus der Beginn der Erlösung ist, die bald kommen wird, in unseren Tagen. Und für das Volk und die Städte unseres Gottes müssen wir stark sein.“ In seinem Essay Derech ha Tchiah (Der Weg der Erneuerung) aus dem Jahre 1904 beschwört Kuk in lebensphilosophischen Begriffen die geistige Erneuerung der jüdischen Nation, die sich nach den Zeiten ihrer Jugend zurücksehne, als sie ihren Bund mit Gott geschlossen habe:

Die göttliche Kraft in der Seele der Nation wird erhoben werden, der erneuerte Geist von Weisheit und Moral wird wieder zum Leben erweckt, und dann werden alle etablierten Institutionen von höherem Licht scheinen und göttliche Gnade wird sie erfüllen [...]. In jeder gebildeten Seele wird dann die pulsierende Kraft der universellen göttlichen Seele offenbart. Sie wird sich in Visionen und in Dichtung ausdrücken. Ihr Einfluss wird überall bemerkt werden. Und sie wird zuerst im Volk Israel fühlbar werden, und im Laufe der Zeit wird sie auch unter der anderen Menschheit gefühlt werden. Alles, was durch Dekadenz ausgelöscht war, wird wieder aufgeschrieben, alles, was vergessen war, wieder aufgerufen, und die Freude des Himmels und der Erde wird wie in alten Tagen zurückkehren.

Politische Geschenke
Als Kuk 1935 starb, hatte er die Verbindung von Heiligem und Profanem, von jüdischem Glauben und säkularem Zionismus gefestigt und damit eine, wenn schon nicht ausgearbeitete, so doch in ihren Fundamenten begründete Theologie des Zionismus hinterlassen. Diese Lehre wurde in den nächsten Jahren von seinem einzigen Sohn, Zvi Jehudah Kook, der ihm auch als Leiter der zentralen Jeschiwa (Talmud-Tora Akademie) Israels in Jerusalem, der „Jeschiwat Merkaz ha Raw“ nachfolgte, gefestigt und seit 1935 unter Tausenden von orthodoxen Juden verbreitet. Indes: Bis in die frühen fünfziger Jahre blieb Merkaz ha Raw eine eher unbedeutende, kleine Institution, die am Rande der politischen Konstellationen des Staates Israel eine Nebenrolle spielte.

Der 1948 gegründete, bis in die siebziger Jahre stets von Koalitionen unter Führung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei regierte Staat Israel kennt das laizistische Prinzip der Trennung von Staat und Kirche bzw. Staat und Synagoge nicht. Israel, das eine Gründungsurkunde und eine Reihe menschenrechtssichernder Gesetze kennt, besitzt keine geschriebene Verfassung. Aus Gründen, die sowohl mit der Frage von Regierungsmehrheiten als auch mit dem Charakter des Staates als eines jüdischen Staates – nicht nur eines Staates der Juden – zusammenhängen, haben die Sozialdemokraten in den frühen Jahren des Staates Israel parlamentarische Mehrheiten stets unter Einbeziehung religiöser Parteien gesucht und damit die bürgerlich-nationalistische Opposition von der Macht ferngehalten. Der Preis für das Fernhalten der rechtszionistischen nationalistischen Opposition von der Regierung bestand in einem massiven Entgegenkommen gegenüber den religiösen Parteien, die der Auffassung waren und sind, dass die Verfassung Israels nur die Tora sein könne. Politisch bedeutete dies eine hundertprozentige, ausnahmslose Übernahme des talmudischen Familien- und Erbschaftsrechts für alle jüdischen Bürger mit dem Resultat, dass in Israel z.B. keine zivilen, sondern nur religionsgruppeninterne Heiraten geschlossen werden.

Die fundamentalistische Radikalisierung
Diese innenpolitischen Maßgaben stellten indes noch keine besondere außenpolitische Gefahrenquelle dar. Das änderte sich vor vierzig Jahren, im Juni 1967. Tatsächlich begann die fundamentalistische Radikalisierung der israelischen Orthodoxie nach dem Sechstagekrieg. Als der damalige Militärrabbiner Goren bei Erreichen der Klagemauer im Sechstagekrieg das ansonsten nur am Neujahrsfest und am Versöhnungstag gebrauchte kultische Widderhorn, das Schofar, blies, schien die Idee eines neuen messianischen Zeitalters augenfällig geworden zu sein. Die kurz darauf vom ganzen israelischen Parlament mit Ausnahme der Kommunisten beschlossene förmliche Annexion der Altstadt von Jerusalem mitsamt dem zweithöchsten Heiligtum der moslemischen Welt, dem Felsendom, besiegelte diese Stimmung.

Freilich waren auch die unmittelbar folgenden Jahre noch nicht durch eine massive Mobilisierung der religiösen Rechten gekennzeichnet, sondern durch eine Phase des Abwartens, in der es um die Frage ging, ob und inwieweit die nach wie vor sozialdemokratisch geführte Regierung sich zu den biblischen Territorien verhalten werde. Zunächst formierte sich eine säkulare Bewegung zur Annexion der West Bank, die „Land Israel Bewegung“, die von sogenannten aktivistischen Gruppen des Arbeiterblocks ausging, dann erst formierte sich die fundamentalistische Siedlungspolitik. Speerspitze der religiös motivierten Besiedlung war eine Bewegung, die sich den Namen „Gusch Emunim“, d.h. „Block der Getreuen“, gab – in ihrem Kern Studenten des Sohnes von Raw Kuk, die in der Jugendorganisation der nationalreligiösen Partei, der Bnei Akiva, zu wirken begannen und im Lauf der sechziger Jahre mehr und mehr Führungspositionen innerhalb der bis dahin gemäßigten nationalreligiösen Partei übernahmen.

Den Bezug der Bewegung zur West Bank, zum biblischen Territorium des Landes Israel, erläuterte einer der Chefideologen von „Gusch Emunim“, Hanan Porat, ebenfalls ein Absolvent der „Jeschiwa Merkaz ha Raw“, 1976 in einem Interview so:

Die ganze Angelegenheit des Landes Israel ist eine außerordentlich geheimnisvolle Angelegenheit, deren Basis eine spirituelle Hinneigung zu Materie und Erde ist. Wenn man sich um ein vertieftes Verständnis der Beziehung zwischen Leib und Seele oder der Beziehung zwischen Mann und Frau bemüht und dabei in das Geheimnis der Einheit von Körper und Geist eindringt, dann wird sich die Liebe und die Hochschätzung für jeden Teil des Landes Israel als das zeigen, was der Wert eines einzelnen Körperteils für den ganzen menschlichen Leib ist. Eres Israel enthält ein Element des Lebens, und es ist so dem Geist verbunden, dass die Aufgabe auch nur eines Teils so wirkt, als gäbe man ein lebendes Organ auf.

Schließlich identifizierten einzelne radikale Siedler bzw. ihre Ideologen allen Ernstes die „Araber des Landes Israel“ – so ein Ausdruck des ehemaligen Premier Jizchak Shamir – als jenes biblische Amalek, den Todfeind der Juden, das auszurotten sei.

Terroristische Gruppen
Paradoxerweise war es der vom nationalistischen Premier Menachem Begin mit Ägypten geschlossene Pakt von Camp David, der schließlich zu einer Räumung jüdischer Siedlungen der Sinaihalbinsel im Jahre 1982 führte. Das war möglich, weil die Sinaihalbinsel auch nach weit ausgelegten biblischen Kriterien nicht zum Land Israel gehört. Als Reaktion auf diese Räumung kam es zur Formierung eines terroristischen Unter grunds unter jüdischen Fundamentalisten. So traf sich im September 1978 eine Gruppe von jüdischen Terroristen mit dem Zweck, Felsendom und El-Aksa-Moschee in die Luft zu sprengen, um Platz für den Neubau des Dritten Tempels zu gewinnen und damit die Erlösung zu beschleunigen. Diese Gruppen unterhalten seither in der Nähe des Felsendoms kleine religiöse Akademien, in denen sie nach Angaben der Bibel die Gewänder und Musikinstrumente der Tempelpriesterschaft rekonstruieren, um für den Tag gerüstet zu sein, da El-Aksa-Moschee und Felsendom verschwunden sind, so dass der Dritte Tempel errichtet werden kann. Als im Mai 2007 eine große Gruppe von Rabbinern den Tempelberg besuchte, vollzogen sie etwas, das bisher vom Oberrabbinat aus religiösen Gründen verboten war: bei diesem Besuch könne man versehentlich das Allerheiligste mit Füßen treten. Die Rabbiner aber behaupteten, sich rituell gereinigt zu haben. Ihr Besuch gilt als Zeichen einer wachsenden Radikalisierung der jüdischen Fundamentalisten. Doch entwickelte sich auch dieser Fundamentalismus im Lauf von beinahe dreißig Jahren im Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt.

Nachdem im Mai 1980 in Hebron sechs Jeschiwastudenten von Palästinensern ermordet worden waren, jagte im Juni der neu organisierte jüdisch religiöse Untergrund die Autos zweier palästinensischer Bürgermeister in die Luft und verkrüppelte die Insassen. 1983 – ein Jahr nach dem ersten Libanonkrieg – griffen Mitglieder dieses Untergrunds ein islamisches College in Hebron an und töteten drei Menschen. lm April 1984 beschossen Angehörige des Untergrundes arabische Busse, während bei der Knessethwahl der rassistische Rabbi Kahane, der alle Araber aus Israel und dem Land Israel vertreiben wollte, in die Knesseth gewählt wurde. 1985 verabschiedete das israelische Parlament ein Anti-Kahane-Gesetz, wonach die Partei von Kahane 1988 nicht mehr zur Wahl zugelassen wurde. Im Dezember 1987 brach schließlich die erste Intifada aus, deren Aktionen bei den radikalen Siedlern gewalttätige, pogromartige Reaktionen hervorriefen und Anlass zu weiteren wilden Siedlungen gaben. Die partielle Faschisierung des Umfeldes von Gusch Emunim führte zu einer Aufkündigung der staatsbürgerlichen Solidarität aller jüdischen Israelis. Nicht wenige radikale Siedler setzten ein Ende der Siedlungstätigkeit mit dem Ende der Einwanderungspolitik gleich.

Die Auflösung des modernen, zionistischen Staates
Fragt man nach den Ursachen dieser hochgefährlichen Radikalisierung, so wird das Augenmerk auf ein komplexes Zusammenspiel nicht religiös intendierter, geopolitischer Siedlungspolitik der damaligen Regierung Schamir mit dem religiösen Fanatismus von insbesondere aus den USA eingewanderten neu-orthodoxen Familien und auf eine wachsende Entfremdung jener Teile der israelischen Gesellschaft fallen, die sich vor dem Hintergrund ihres religiösen Glaubens und mit teils gewollter Unterstützung der Regierung nur noch auf sich selbst bezogen und dem mehrere Jahrzehnte geltenden zionistischen Integrationsmodell ein eigenes Bild vom Staate entgegensetzten.

Letzten Endes strebt der Siedlerfundamentalismus auf seine Weise ebenso wie die islamistischen Palästinenser die Auflösung des modernen, zionistischen Staates Israel an. Wo dieser Nationalstaat auf die demokratische Verfasstheit des Volkes und auf die Begrenztheit seines Territoriums sowie die prinzipielle Gleichwertigkeit anderer Nationen setzte, kennt der Fundamentalismus nur noch das Gegenteil all dessen: An die Stelle des demokratischen Volkes tritt die jeweils beanspruchte, nicht mehr diskutierbare Souveränität Gottes, an die Stelle eines von den Nachbarn anerkannten Territoriums das heilige Land, das Siedlungsgebiet eines Stammes, an die Stelle eines Staatsvolkes tritt das Volk Gottes.

Ob die israelische Demokratie, ihr Institutionengeflecht und ihre überwiegende laizistische, zionistische Mehrheit die Kraft besitzen wird, den Rücksturz in den Fundamentalismus aufzuhalten und damit den säkularen Zionismus zu retten, ist glücklicherweise noch immer nicht entschieden – wenngleich sich die Waage zugunsten der Siedler gesenkt hat. Zu stark vermischen sich auf Seiten der demokratischen, nicht fundamentalistischen Rechten sicherheitspolitische und ideologische Interessen, zu weit ist die säkulare Rechte dem religiösen Fundamentalismus schon entgegengekommen.

Micha Brumlik emer. Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt am Main

Junge Kirche 2/2015

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